Die Tage vergingen in der Mühle der Routine. Aus den Tagen wurden Wochen, aus den Wochen Monate. Ein weiteres Jahr zog an Nishka vorüber.
Heute stand aggressives Ausschlafen auf dem Plan. Nishka nutzte den Freiraum, um ihre Seele baumeln zu lassen.
Sie fühlte sich noch bettschwer, löste sich vorsichtig von Kent und drehte sich auf den Rücken. Wachheit und Schlaf wechselten, bis sie mit einer wohligen Schwere in den Gliedern endlich die Augen öffnete. Kent hatte einen guten Geschmack, was Holos betraf. Über ihr breitete sich der nächtliche Südhimmel aus, die Wände zeigten die endlosen Weiten des Meers, aus Lautsprechern schlugen rauschend Wellen gegen einen Strand. Nishka grinste. Dass immer dieselbe Möwe durch die Dämmerung flog, entlarvte die Illusion rasch.
Mit einem Grinsen betrachtete sie Kent. Das Rot ihrer Haare auf dem grünen Kissen wirkte wie ein Lagerfeuer auf einer Wiese, passend zu Kents ewiger Hyazinthe. Nishka atmete ein. Wehmütig lauschte sie der Brandung. Das Meer. Vermisste Kent ihre Heimat? Litt sie in der Wüste? Bis heute hatte sie noch kein Wort über ihre Vergangenheit verloren.
»Moin, du Schnarchnase!«
Nishka riss überrascht die Augen auf. Hölle, Kent war glockenwach. Nishka wälzte sich auf sie und kitzelte sie. Kent kreischte und hatte Nishka im Handumdrehen unter Kontrolle. Au wei. Ohne Einsatz ihrer Musik unterlag Nishka der Älteren nach all den Jahren immer noch in jedem Kampf. An der Rangfolge hatte sich seit ihrem ersten Kampf vor Urzeiten nicht viel geändert. Sie ergab sich und kuschelte sich in Kents Griff.
Kent zauste ihre Haare und Nishka schnurrte. Wie sie diese Momente liebte!
»Was steht heut an, Oma?«
Mit einem Blickbefehl ersetzte Kent die Sterne durch ein Datenfeld. »Lies selbst, du Teenie.«
Nishka hob Kents Arm, legte sich so in ihre Achsel, dass sie zur Decke sehen konnte und deckte sich mit Kents Arm zu. Mit ihrer anderen Hand zog sie die Bettdecke bis zu ihrem Kinn und grinste spitzbübisch. Kents Füße lagen blank im Kalten. Sie wartete vergeblich auf eine Beschwerde. Kent zog einfach die Beine an und studierte die eingeblendeten Daten. Nishka seufzte. Kent war entschieden zu erwachsen mit ihren sechzig.
Sie verstand die Beziehung zu Kent immer noch nicht. Würde sie nach der Verschmelzung mit Khruschew anfangen, Kent zu lieben, als Frau? Blieb Kent verborgen, dass Nishka sie anders berührte als zuvor? Sie brach den Gedanken ab. Das führte zu nichts.
»Fertig mit träumen?« Kent zupfte die Bettdecke etwas beiseite, damit Nishka auf den Plan sehen konnte.
»Glückskeks. Du hast heute frei. Morgen will dich Deubler sehen. Noch irgendwelche letzten Worte?«
Nishka verschwand unter der Bettdecke und stöhnte. Deubler! Sie bekam Bauchweh. Er war ein Meister darin, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.
»Hey, Zwerg, warum schnappst du dir nicht einen Gaul und machst dich rar?« Das klang gut. Etwas Ruhe vor dem Sturm. Nur sie und die Wüste.
Dafür hatte sich Kent eine Belohnung verdient. Nishka schwang sich aus dem Bett und biss die Zähne zusammen, als ihre Füße die Fliesen berührten. Kent hasste Teppiche, das würde sie ihr nie verzeihen.
Sie schlüpfte in ihre Socken und brühte Kaffee auf. Für die olle Teenudel Kent brühte sie eine Tasse Tee. Sie ließ ihre Finger über das feine Porzellan gleiten. Kent hatte Stil. Ihr kam eine Idee. Mit einem diabolischen Lächeln goss sie den Tee in einen billigen Humpen aus Steingut um. Das war für die kalten Fliesen!
Endlich war es soweit. Schon von weitem hörte sie Schnauben und Scharren von Hufen. Nishka schenkte Mistral einen sehnsüchtigen Blick. Er war bester Laune! Das Holz seiner Box war stellenweise zersplittert, das Stroh lag im weiten Umfeld verteilt. Das Fell des Rappen glänzte vor Schweiß. Die anderen Pferde blähten die Nüstern vor der Wildheit des Steppenhengstes.
Nishka näherte sich vorsichtig der Box. »Na, mein Held? Vermisst du deine Herde?« Er beäugte sie und schnaubte. Respektvoll blieb sie stehen. »Weißt du, wie oft ich euch von der Cafeteria aus zugesehen habe? Du bist so wunderschön! Du gehörst nicht in dieses Loch, du musst durch die Wüste galoppieren.«
»Ihr Pferd steht bereit, Major. Da vorne, die helle Stute. Sie ist sehr ruhig und ausgeglichen.« Eine Stockwoman drückte sich mit ihrem Kärcher vorsichtig an Mistrals Box vorbei, und er stieg sofort. Sie duckte sich instinktiv weg.
»Danke.« Wieder warf Nishka dem Hengst einen Blick zu. Er drehte den Kopf und fixierte sie, riss den Kopf hoch, als ob er ihr auffordernd zunicke.
»Lassen Sie von dem besser die Finger, der hat den Teufel im Leib.«
In Nishka regte sich etwas. ›Apropos Teufel – Lust auf eine kleine Lektion?‹
Nishkas Körper spannte sich sofort. ›Amtranik! Was für eine Frage. Was hast du vor?‹
›Sitz auf.‹
›Wie ….?‹
›Nein, du Scherzkeks. Ein Nahtoderlebnis steht heute nicht auf dem Programm. Nimm die Stute.‹
Wenig später lenkte Nishka das brave Tier aus dem Hof und ließ die Zügel locker. Es ging im Schritt durch einen langen Tunnel ins Freie. ›Wo führst du mich hin?‹
Doch Amtranik schwieg.
Selbst die genügsamsten Sträucher wurden hier selten, das harte Gras erreichte kaum eine nennenswerte Höhe. Den Boden durchzogen Tausende von Kaninchenbauten, die das erfahrene Pferd geschickt umging. Nishka entspannte sich und beobachtete die Umgebung. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel, die Luft flimmerte schon zu dieser frühen Stunde. Ein feiner Staubnebel schwebte über der roten Erde. Myriaden von Fliegen umschwirrten ihren Kopf, setzten sich in den Augen- und Mundwinkeln ab. Sie fuchtelte mit den Händen, um sie zu vertreiben und musste grinsen. Australien bot ihr seinen Gruß.
Ihr Blick wanderte über die Landschaft, die vor ihr lag.
›Fühlst du dasselbe? Ich meine, es gibt kaum ein unwirtlicheres Land als das Outback, und dennoch liebe ich es so.‹
›Vielleicht kann ich es dir erklären.‹ Amtranik klang ungewohnt emotional.
›Ach ja? Ich bin ganz Ohr.‹
›Sieh dich um.‹
›Das tue ich schon die ganze Zeit.‹ In Nishka stieg Unmut auf. ›Du vergeudest meinen freien Tag, mach hinne.‹
›Ich meinte, sieh dich richtig um‹, beharrte Amtranik, ohne auf ihren flapsigen Tonfall einzugehen. ›Öffne deine Augen und öffne deinen Geist. Lass die Welt in dein Herz.‹
›Bin ich etwa der kleine Prinz?‹
Amtranik schwieg.
Nishka holte tief Luft, atmete aus und versuchte, Unmut und Ungeduld zu vertreiben. Ihre Augen schweiften über den Horizont. In der schwirrenden Luft waren nur Leere, Staub und ein paar Gräser. Der Himmel wolkenlos, nichts, an dem sich das Auge festhalten konnte. Er strahlte in einem besonderen Blau, tiefgründiger, weiter, klarer, als sie es von Adelaide gekannt hatte. Warum fiel ihr das erst jetzt auf? Sie verlor sich in diesem Blau, es nahm ihr ganzes Ich auf, fühlte sich frei und geborgen zugleich.
Unter ihr raschelte es. Ein Wombat suchte eilig Schutz vor der vermeintlichen Bedrohung. Auf einem Stein wärmte sich eine Eidechse. In der Ferne reckte eine Gruppe Emus hektisch die Köpfe. In einer Senke bewegten sich die Blätter von Wüsteneichen träge im Wind. Dort musste sich Wasser finden lassen. Ein Schwarm der allgegenwärtigen grau-rosafarbenen Galahs flatterte auf, überall um sich herum vernahm sie ein Krächzen, Knistern, Rauschen und Rollen. Der Wind streichelte ihre Wangen und brachte ihr Nachricht von weit her, von Eukalyptus, Koalas, von Riesenkängurus, von Menschen, die um glimmende Feuer tanzten. Der Geruch von Hunderttausenden von Jahren. Erneut wanderten ihre Augen über den Horizont. Diese Leere, diese Weite, das Land atmete ein und aus, ein und aus.
Sie verstand. ›Das Land lebt!‹
Amtranik schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln.
›Ich meine, es lebt wirklich. Es ist eins, es ist alles eins. Wie gerne wäre ich ein Teil davon.‹
›Du hast es noch nicht verstanden.‹
›Was denn?‹
Ein nachsichtiges Seufzen.
›Du bist bereits ein Teil davon. Das Land, das Wasser, der Himmel, die Bäume, die Sträucher, das Gras, die Schlangen, die Kängurus, du! Es ist alles eins, ein Teil der großen Schöpfung.‹
Nishka schwieg ergriffen.
›Aschmunadai‹, hörte sie ganz leise.
›Asch… was?‹
Aus der Ferne näherte sich eine donnernde Staubwolke, aus der vereinzelt Pferdeköpfe erkennbar waren. Sie wechselten vom Galopp in Trab, dann in Schritt, blieben zuletzt stehen und beäugten sie. Der Staub senkte sich nach und nach.
Nishka empfand Ehrfurcht. ›Die Herde! Wie oft habe ich sie bewundert. Jetzt steht sie direkt vor mir. Sie sind so wunderschön. Wieso fliehen sie nicht vor mir?‹
›Warum sollten sie dich fürchten? Du bist ein Teil von ihnen.‹
Nishka blinzelte irritiert. ›Das hört sich ja alles gut und schön an … aber … was meinst du?‹
›Sende einen Teil von dir aus und versenke ihn in eines der Pferde.‹
›Ich soll … was?‹
›Du bist nicht das, was du siehst. Dein Körper mit all seinen Ersatzteilen ist ohne Bedeutung. Du bist – reine Energie. Sende sie aus.‹
Angestrengt versuchte Nishka, etwas von sich auszusenden.
Amtranik würde ihr nicht helfen, wenn sie es nicht zuvor nach besten Kräften versucht hatte. Nach einer Weile gab sie auf. ›Wie soll ich das denn machen?‹
Amtranik rührte sich. »Als allererstes schirmst du dich ab, wie ich dich gelehrt habe. Niemand darf deine Musik hören. Dann …« Sie spürte einen leichten Druck, der rasch zunahm, dann ein Zwicken. Im nächsten Moment sah sie sich selbst, von außen, auf dem Pferd sitzen. Sie riss die Augen auf. Noch immer saß sie fest im Sattel, aber gleichzeitig war sie …
»Amtranik, Hilfe!«
›Schrei hier nicht rum! Ganz ruhig. Genieße dein erstes Mal! Bewege deinen Splitter.‹
Nishka versuchte es. Um ein Haar wäre sie aus dem Sattel gefallen.
›Den Splitter, nicht deinen Hintern‹.
Nishka sandte Amtranik einen wütenden Gedanken. Sie konzentrierte sich, verlagerte ihre Aufmerksamkeit auf … was auch immer das war, und der Splitter bewegte sich. Rasch gewann sie an Übung, sie umkreiste sich und betrachtete sich von hinten. Dann bewegte sie sich auf den Leithengst zu.
Sie spürte, wie seine Seele sich öffnete und ihre Energie bereitwillig aufnahm, als sei nichts selbstverständlicher auf der Welt. Ein Schwall an Eindrücken strömte auf sie ein. Fell, das unter dem Kribbeln der Fliegen zitterte. Ein Magen, gefüllt mit leckerem Gras. Der Schweif, der unablässig wedelte. Nüstern, die schnaubend die Nachrichten aus weiter Ferne aufnahmen. Ohren, die sich aufmerksam in ihre Richtung drehten, nicht um zu lauschen, sondern um ihr mitzuteilen, ›Du bist da – ich bin da – wir sind eins‹.
Nishka strömten Tränen der Rührung über die Wange. ›Wir sind eins‹, wiederholte sie. Sie wandte sich an Amtranik. ›Kann ich mich mit jedem Wesen auf der Erde verbinden?‹
›Da wären wir schon bei Lektion zwei. Deine Energie ist nicht unendlich. Übertreibe es also nicht und vor allem – sieh zu, dass die Splitter auch wieder zu dir zurückkommen.‹
Nishka nickte, konzentrierte sich auf den Splitter, auf sich selbst im Hengst, kehrte zurück zu ihrem Körper, verschmolz mit ihrer eigenen Entität. ›Könnte ich mich auch mit dir verbinden?‹ Der Gedanke erregte Nishka. ›Dann wüsste ich endlich, wer du bist.‹
»Du wirst Antworten erhalten, später!« Er machte eine kleine Pause.
›Verbinde dich nicht mit Energien, denen du nicht gewachsen bist. Auch ich selbst würde mich niemals mit meinesgleichen oder gar mit Mutter …‹ Abrupt schwieg Amtranik.
›Mutter? Du hast eine Mutter? Wer ist sie? Wer bist du? Und wer ist die Frau, die mich töten will?‹
Amtranik schwieg beharrlich, Nishka gab auf – für den Moment – und ließ ihrem Pferd freien Lauf.
›Was passiert, wenn ich das übersehe?‹
›Das willst du nicht wissen. Lass uns zurückkehren. Mistral wartet.‹