Die göttliche Amme

Die junge Frau hetzte über die Felsen. Sie wich scharfen Kanten, Schlangen und Skorpionen aus, zumindest den offensichtlichen. Sie wollte nicht wissen, was sie alles übersah. Abrupt hielt sie inne. Vor ihr türmte sich eine Düne auf. Soweit sie sehen konnte, gab es keine Chance, sie zu umgehen. Ängstlich warf sie einen Blick über die Schulter. Sie lauschte und zog das Schultertuch mit dem Bündel vor ihrer Brust fester. Sie begann, sie hochzusteigen. Ihre Füße sackten in dem weichen Sand sofort nach unten. Sie kletterte mit kleinen, schnellen Schritte weiter und griff nach jedem Stein oder Zweig, der ihr Halt bot. Schon nach Kurzem keuchte sie, ihre Schläfen pochten.

Auf allen Vieren erreichte sie den Kamm. Sie beschattete ihre Augen mit der Hand und suchte den Horizont ab. Ihre Verfolger würden den gleichen Weg nehmen müssen. Und einen Fährtenleser konnten sie sich schenken: Ihre Spur war überdeutlich zu sehen. Ein Weinen klang auf. Sie öffnete ihren Umhang und legte das Bündel an die Brust. Das Weinen wurde zu einem Glucksen. Die Frau seufzte; die Milch würde nicht reichen. Sie hielt das Baby mit der einen Hand, mit der anderen löste sie den Wasserbeutel vom Gürtel. Sie setzte ihn an die Lippen. Es kam kein Tropfen. Ihre Zunge klebte am Gaumen.

Ob sie die Jäger abgehängt hatte? Die Landschaft in allen Richtungen war leer. Sie nahm das Kind von der Brust. Sofort fing es an zu schreien. Sie küsste ihr Kind, wickelte es ein und hing sich das Schultertuch über.

Die andere Seite der Düne lag vor ihr. Der Abstieg würde rasant werden. Ein Blick zum Himmel, dann rutschte sie nach unten. Steine rissen ihr die Haut auf. Der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen. Sofort suchte sie die Umgebung nach Tieren ab. Lediglich eine Schlange ergriff die Flucht.

Ihre Tochter wimmerte. »Es tut mir leid, Liebes. Ich kann dich jetzt nicht stillen. Es ist hier zu gefährlich.« Obwohl – die Düne konnte den Schall ihrer Musik dämpfen. Sie suchte sich einen höher aufragenden Stein und umfasste ihn mit beiden Händen. Sie begann zu singen, so leise es ging. Der Fels antwortete und vibrierte zum Takt ihrer Musik. Die Zeit zog viel zu lang, bis ein kleines Rinnsal aus einer Spalte drang. Rasch nahm sie den Wasserbeutel ab, füllte ihn, trank, füllte ihn erneut. Das Rinnsal versiegte. Sie lehnte ihre Stirn gegen den Stein und sprach ein Dankgebet.

Sie benetzte den Zipfel ihres Umhangs und presste die Tropfen in den Mund ihrer Tochter. Die Kleine zog eine Grimasse. »Hab ein wenig Geduld, Liebes. Bald habe ich wieder Milch.«

Laute Männerstimmen schreckten sie auf. Die Düne würde sie nicht lange aufhalten. Sie warf sich den Umhang über und rannte los.

Sie kam nur wenige Schritte weit. Auf dem Dünenkamm schälten sich Gestalten aus der flirrenden Luft. Männer sahen ihr nach. Einer hob seine Hand. Ein heller Ton klang auf. Trotz der Distanz konnte sie sehen, wie der Ring an seiner Hand aufglühte. Ein gleißender Strahl schoss daraus hervor. Der Felsen vor ihr barst. Eine Wolke aus Staub nahm ihr den Atem. Splitter gruben sich in ihre Haut. Blut lief ihr in die Augen. Ihr Baby schrie. Sie hastete weiter. Neben ihr krachte es. Sie brachte den nächsten Felsen zwischen sich und ihre Verfolger. Noch schossen sie nur auf die Felsen.

Viel zu schnell kamen die Schritte näher. Die Frau drehte sich um. Die Verfolger schlossen auf. Ihre schwarzen Umhänge flatterten. Die Ringe an ihren Fingern glühten.

Das Singen der Ringe änderte sich. Narkosestrahlen! Lieber tot als gefangen! Sie biss die Zähne zusammen und legte die Handgelenke aneinander. Ihre Hände bewegten sich wie ein Schmetterling. Leise intonierte sie das Mantra der Verzweiflung. Ein Flirren legte sich um ihren Körper. Zwei Strahlen schossen auf sie zu und prallten vom schützenden Schirm ab. Sie warf sich herum und lief weiter.

Sie jagte zwischen zwei Felsen. Wie angewurzelt blieb sie stehen; vor ihr lag flaches Terrain ohne jeden Schutz. Ein einsamer Hügel erhob sich in der Ebene. Unter sich fühlte sie weichen Sand. Sie wurde blass. Hier durfte sie nicht sein. Niemand durfte hier sein. Die Göttin … »Oh nein, oh bitte nein …«. Ein Geräusch hinter ihr! Sie fuhr herum. Zehn Männer näherten sich ihr in geschlossener Formation. Eine komplette Eashra! Ihre Haltung entspannte sich. Siegesgewiss schritten sie auf sie zu. Die Frau schloss die Arme fest um ihr Kind.

Die vorderste Gestalt legte die Kapuze in den Nacken. Die Haut des Mannes war tiefschwarz, der Schädel kahl rasiert. Sein Bart reichte bis zur Brust. »Hör auf, dich zu wehren, Afrashteh! Du wirst eine Menge Spaß mit uns haben.« Die Jäger kamen weiter auf sie zu.

»Lasst mich doch gehen. Bitte.«

Der Anführer blieb stehen. Die Männer warteten. »Wo willst du denn noch hin, Elaine? Zu Hause bringen sie dich um. Und in der Wüste überlebst du keinen Tag.«

»Das ist immer noch besser, als unter euch zu leben.«

Er drehte sich um. »Lebt ihr gern unter uns? Ist doch ganz okay, oder?« Die Männer grinsten. Er wandte sich wieder ihr zu. »Jetzt zick nicht rum. Du hast keine Wahl. Und wir können eine gefallene Nishkana gut gebrauchen.«

»Nein!«

»Und was ist mit deiner Tochter? Soll sie in der Wüste verdursten? Komm mit uns. Ich garantiere dir ein gutes Leben. Für dich und deine Tochter.«

»Niemals! Eher sterbe ich.« Sie schlüpfte aus ihren Sandalen. Barfuß wich sie zurück. Die Jäger folgten ihr nichts ahnend. Ein Zittern ging durch den Boden.

Die Männer starrten nicht mehr auf sie, sondern an ihr vorbei. Ihre Augen weiteten sich. Der Boden unter ihr vibrierte stärker. Der Sand öffnete sich unter der Eashra. Zwei Männer stürzten in die Tiefe. Ihre Schreie wurden abrupt vom Geräusch brechender Knochen erstickt. Die anderen krallten sich fest. Sie zogen sich auf den rettenden Felsen. Dort warfen sie sich auf die Knie und streuten Sand auf ihre Köpfe.

Hinter Elaine regte sich etwas. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Der Sand neben ihr zeigte zwei Schatten. Der hintere wies mit ausgestrecktem Arm von sich. Die Eashra rappelte sich auf. Die Jäger flohen über die Düne.

Das Herz schlug der Frau bis zum Hals. Sie drückte ihr Kind enger an sich. Wieso lebte sie noch?

»Elaine, Elaine. Du hast Gewalt ins Angesicht des heiligen Hügels gebracht. Reicht es nicht, dass ihr euch in den Oasen gegenseitig umbringt?«

Langsam drehte sich Elaine um. Emnasut! Da stand sie, wie von den Barden besungen. Ihre Augen waren unter der Krempe eines breiten Hutes verborgen. Blonde Haare stahlen sich darunter hervor. Ihr Mund war zu einer feinen Linie zusammengepresst. Ein langer Ledermantel bewegte sich leicht im Wind. Kein Tropfen Schweiß perlte auf ihrer Stirn.

Elaine wurde schwindelig. Sie schaffte es nicht, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Das Baby in ihrem Arm wimmerte. Erschreckt lockerte sie ihren Griff um das Kind. »Ehrwürdige, ich wollte den heiligen Boden nicht entweihen!«

Das Aufblitzen in Emnasuts Augen jagte Elaine eine Gänsehaut über die Arme. Als Emnasut die nackten Füße der jungen Mutter sah, nickte sie. »Und das soll ich dir abnehmen?« Ein feines Lächeln nahm die Spannung aus Emnasuts Gesicht. »Das war ein kluger Plan. Klug und hinterhältig.«

Elaine wagte aufzuatmen.

»Es ändert aber nichts daran, dass du heiligen Boden betreten hast.« Emnasut ließ den Blick weiter zu dem Kind wandern.

Elaine sank auf die Knie. Sie streckte die Arme nach Emnasut auf, Tränen liefen über ihr Gesicht. »Nein. Nicht, mein Kind!«

Emnasut näherte sich und schlug das Tuch zurück. »Eine Tochter?« Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sich die Göttin vor Elaine. »Eine Geburt, allein, mitten in der Wüste – und die Flucht vor den Kentanern. War das jetzt Mut oder der blanke Wahnsinn?« Emnasut öffnete ihre Arme. Elaine drehte sich mit dem Baby weg. Sie konnte nur noch daran denken, ihre Tochter zu beschützen.

Die Ruhe in Emnasuts Augen ließ Elaine freier atmen. »Ich werde nie eine Dirne der Kentaner! Und meine Tochter auch nicht. Niemals!«

Erneut streckte Emnasut die Hände aus. Elaine legte das Kind vorsichtig in die Arme der Göttin.

»Die Arme ist ja halb verhungert.« Emnasut öffnete Mantel und Hemd und legte sich das Kind an die Brust. Der tiefschwarze Teint des Babys kontrastierte mit ihrer hellen Haut. Das Kind begann sofort zu trinken. Der Blick der Göttin wurde weich. »Sie hat Haare und Haut des Volkes.« Sie streichelte den Kopf des Babys. »Ich warte schon so lange. Vielleicht schaffst du es ja dieses Mal.«

Emnasut begann zu singen. Sie hatte einen Alt, der Elaines Brust schwingen ließ. Die Melodie war sanft und traurig. Nach einem Refrain schlief das Kind.

»Was war das für ein Lied? Und in welcher Sprache habt Ihr gesungen?«

»Shrine of Love.« Emnasut schwieg eine Weile. Sie wischte sich eine Träne fort. »Diese Sprache gibt es seit fast tausend Jahren nicht mehr. Sie hieß ›English‹. In dem Lied sehnt sich eine Frau nach ihrem verschollenen Mann.«

Emnasut legte die Hand auf Elaines Brust. Eine Melodie klang in ihr, fremde Worte senkten sich in ihr Gedächtnis. »Jetzt kannst du ihr das Lied selbst vorsingen. Ich habe es von meiner Mutter gelernt. Es würde mich glücklich machen, wenn du es weiter gibst.« Sie hielt das Baby hoch.

»Was wollt Ihr von ihr?« Elaine begann zu zittern.

»Na, na.« Emnasut hob mit einem Finger Elaines Kinn an. »Ich werde dir dein Kind nicht nehmen. Ich segne sie. Ihr Name sei Neschama. Möge sie den Frieden finden, den sie bisher vergeblich gesucht hat.«

Elaines Kopf war wie leer gefegt. Sie verstand nichts.

Emnasut lachte auf. »Eine Afrashteh bringt mitten in der Wüste ihr Kind zur Welt. Sie überlistet eine ganze Eashra. Und jetzt sitzt sie auf heiligem Boden, während ich ihr Baby stille.« Sie reichte das Kind zurück. Elaine senkte den Blick.

»Geh und pass auf dich auf. Auf Euch.«

Emnasut verwandelte sich in einen Staubwirbel und verschwand zwischen den Hügeln.

Ein Stöhnen riss Elaine aus ihrer Starre. Hinter ihr wühlte sich ein Kentaner aus dem Sand. Er zog sich mit einem Arm auf die Felsen und blieb schwer atmend liegen. Sein anderer Arm hing schlaff herunter. Gegen ihren Willen trugen Elaines Füße sie zu ihm. Sie sah auf ihn hinab. Er war ein wahrer Hüne, etwa in ihrem Alter. Sein Arm war aufgerissen; Blut schoss in Strömen in den Sand.

Seine Augen flackerten auf. Er erkannte sie und grinste. »Guter Trick, Elaine.« Er hustete. »An dir ist ein Krieger verloren gegangen.«

»Kriegerin, du Barbar.« Sie legte die Hände auf seinen Arm und sang das Mantra der Heilung. Ihre Finger glühten blau auf. Das Leuchten verschmolz mit seinem Arm; die Blutung stand, die Wundränder fanden zueinander. »Wie heißt du?«

»Marius.« Er richtete sich auf.

Elaine zuckte zurück.

»Mach dich locker. Ich beiß dich nicht.« Er bewegte seinen Arm. »Saubere Leistung. Bist du sicher, dass du dich uns nicht anschließen willst?«

Sie hob den Finger und ließ ihn aufglühen. »Ich kann die Heilung auch wieder rückgängig machen.«

»Heißt das, eine Heirat ist ausgeschlossen?« Marius lachte und sprang auf die Füße. »Glaub nicht, dass ich so leicht aufgebe.« Er winkte ihr zu und hastete seiner Eashra nach.