Legacy

»Verdammt Fliff! Wo treibst du dich schon wieder rum? Und überhaupt, mit wem quasselst du die ganze Zeit? Steht dieses Mundwerk eigentlich nie still?«

»Ich hab da so eine Ahnung, wo ich es her habe …«

Aber ihre Mutter war viel zu sehr mit Schimpfen beschäftigt, um auf die Spitze zu reagieren. Fliff entschied sich zur Flucht, solange sie noch konnte, und jagte erst kichernd, aber rasch panisch durch die Tunnel, das Schnauben ihrer Mutter dicht auf den Fersen.

Großvater! Wenn es eine Rettung für sie gab, dann ihn. Sie wagte es, zur Orientierung kurz stehen zu bleiben. Sie warf sich herum und tauchte in den Gang ein. Die Erde um sie wurde feucht. An den Wänden gruben sich faserige Wurzeln von Büschen in die Tiefe, dann massivere von Bäumen. Der Gang hatte das Therapiegelände verlassen und führte sie unter den Wald. Endlich wichen die Wände und gaben den Blick auf eine Höhle frei. Flechten und Efeu verschlossen die Vorderseite. Schmale Lichtfinger durchdrangen das Gestrüpp und tauchten die Höhle in ein schummeriges Licht. Wasser perlte an ihnen hinab und bildete an der Rückwand eine kleine Kuhle. Den Boden bildete eine dicke Moosdecke.

Ein Schatten trat in den Schimmer der Flechten. Großvater Rasmus! Sein Fell war farblos, an vielen Stellen lag die Haut blank. Der Körper war so ausgemergelt, als hätte er tagelang in der Wüstensonne gelegen. Ein einziger Zahn ragte über die dünnen Lippen.

»Hallo, Fliff.« Die Stimme zitterte sich schwach ihren Weg zu Fliff, ein Hauchen, ein Fisteln. Fliff sank mit dem Bauch zu Boden. Die Welt hörte auf zu existieren. Nichts außer dieser Stimme existierte noch.

Ein Fauchen in ihrem Rücken riss sie aus ihren Gedanken.

»Großvater, Hilfe!« Fliff sauste zwischen seine Beine, versteckte sich unter seinem Bauch und zog den Schwanz dicht an sich heran. Mamas Augen glühten in der Dunkelheit, kamen immer näher. Fliff drückte sich noch enger an seinen Bauch. Sein Schwanz legte sich um sie.

»Beruhige dich, Cäcilie. Ich rede mit Fliff.«

Mama blickte auf. »Rasmus!« Ihr Blick wurde weich. »Besser wäre es, bevor ich ihr die Haut abziehe!« Sie schüttelte den Kopf und verließ die Höhle.

Der Alte kicherte. »Lange nicht gesehen, Satansbraten!«

Mit der Stimme des Alten kamen mehr als nur Worte, viel mehr. Sie schloss die Augen und Erinnerungen stiegen in ihr auf: Zähne packten sie im Nacken, hoben sie aus einem Haufen wild beißender Ameisen und setzten sie zwischen kräftigen Hinterbeinen ab. Eine Schnauze grub in ihrem Fell nach Insekten, Zähne kämmten ihre Haare. Sie lag zwischen seinen Pfoten und ließ sich von ihm den Sternenhimmel zeigen.

»Ach Fliff. Ich wollte, ich hätte mir meine Kindheit länger bewahren können. Ich musste viel zu früh Schamane werden. Wenn dir doch nur noch ein wenig länger vergönnt bliebe.«

Fliff ließ sich von der Stimme einhüllen, von seinen Worten wiegen.

»Aber ich fürchte, das Schicksal hat weniger nette Absichten mit dir.«

»Keine Sorge, du bist noch ewig da. Du kriegst alles hin. Du kannst sogar Mama beruhigen.« Alle Probleme dieser Welt wurden für Fliff winzig.

Seine Zunge kämmte das Fell zwischen ihren Augen. »Hier geht es nicht um deine Mutter. Die Schöpfung ist erfinderisch, wenn es sich um Ärger dreht.«

Schlimmer als Mamas Wutausbrüche? Fliff schluckte, drehte sich auf den Rücken und krallte sich mit allen Vieren am weichen Bauch fest. Der Alte ließ sich sinken und Fliff ging in einem Meer aus Wärme und Geborgenheit unter.

Fliff drückte sich zwischen Rasmus Vorderpfoten, rollte sich zusammen und deckte ihre Augen mit dem Schwanz zu. »Erzählst du mir eine Geschichte?«

Er drückte seine Schnauze in ihren Hals, seine Stimme klang direkt an ihrem Ohr. »So. Dir ist nach einer Geschichte.«

Fliffs Ohren zuckten, ihre Nackenhaare stellten sich, der ganze Körper prickelte. »Aber wahr muss sie sein!«

»Mein kleiner Wischmopp, ich erzähle nur wahre Geschichten. Kennst du die Waldgeister?«

Fliff richtete sich auf und sah Rasmus streng an. »Wofür hältst du mich?«

Der Alte lachte lautlos, sein ganzer Körper zuckte. »Genau, du frecher Flohfänger. Willst du hören oder erleben?«

»Auf unsere Weise, mach es auf unsere Weise!« Fliff ließ sich fallen, entspannte jeden Muskel, atmete tief ein und aus. Nichts existierte mehr auf dieser Welt. Sie fühlte sich leicht, schwebte empor, glitt durch den Fels, hinaus in den Frühlingsmorgen. »Wohin bringst du mich?« Fliff spürte den Alten neben sich schweben.

»Schau einfach und warte.«

Die Bäume wuchsen dichter, das Sonnenlicht tauchte die Welt in ein sattes Grün. Ausgetretene Pfade wurden seltener und fehlten irgendwann ganz. Die Geräusche der nahen Bundesstraße verloren sich, bis sie durch Zirpen und Zwitschern ersetzt waren.

»Das ist schön hier. Stehen auch Himbeerbüsche in der Nähe?«

»Kind, Kind! Gegen dich ist Buddha magersüchtig. Wo ist dein Sinn fürs Wesentliche? Und jetzt Ruhe. Bist du sicher, dass du siehst, was du siehst?«

Fliff schwieg betreten. Sie befanden sich am Rand einer kleinen Lichtung. Das Licht fiel in Streifen schräg durch die Kronen von Eichen und ließ das Moos auf Baumstümpfen hellgrün aufleuchten. Ihnen gegenüber lag eine Ricke im Gras und säugte ihr Kitz. Fliff ließ ihren Blick schweifen und entdeckte mehr und mehr Details: Eichhörnchen, die sich die Stämme rauf und runter jagten, ein Spinnennetz, das bisher unbemerkt direkt vor ihrer Nase im Licht glitzerte, ein kleiner Erdhaufen, der größer wurde und aus dem sich eine rosa Schnauze schob.

Etwas störte. Massiv.

»Ah. Du spürst es auch?« Der Alte rückte näher.

Fliff suchte die Lichtung ab, fand aber nichts, was zu ihrem Gefühl passte. Sie schaute erneut hin, versuchte, das Gesehene jeweils in Zusammenhang zur Umgebung zu bringen. Die Wurzel einer Weide! Sie schob sich aus dem Boden wie die Fangarme eines Kraken und krallte sich um eine junge Birke. Fliff spürte Durst, Wut und Bitterkeit von ihr ausgehen und sich über die ganze Lichtung ausbreiten.

Ein Schimmern lenkte sie ab, schwebte grün irisierend über die Lichtung und legte sich um den Schandfleck. Es schenkte der Wurzel Verständnis und sprach zu ihr. Tröstend enthüllte es eine Wasserader in der Tiefe. Die Spannung wich aus der Wurzel, ihre Arme senkten sich tief ins Erdreich. Die Birke war frei.

»Das war … das …«

»Psst! Schau!«

Fliffs Augen hetzten hin und her. Jetzt, wo ihr Blick geschärft war, entdeckte sie das grüne Schillern überall. Es leitete die Schnauze des Kitzes zur Zitze, ein verkeilter Ast löste sich und trieb weiter im Bach, verwelkte Blätter richteten sich auf. Unermüdlich tanzten die Lichter zwischen den Stämmen und wo sie gewesen waren, breitete sich Frieden aus.

»Das ist so schön!«

»Mein Liebes, das ist die Aufgabe der Waldgeister. Schön, dass du sie siehst. Jeder sieht, was sein Geist verstehen will.« Er richtete sich auf. »Löse dich, ich möchte dir noch etwas zeigen.«

Er zog Fliff mit sich. Sie schaute über die Schulter, bis sie die Lichtung nicht mehr sehen konnte, und blieb stehen.

»Komm schon, mein Kleines. Sieh einfach genau hin.«

Diesmal fiel es ihr leichter. Das grüne Treiben war auch hier, um sie herum, soweit ihr Blick im Wald reichte. Sie ließ sich vom Alten weiter ziehen und konnte gar nicht genug sehen, links und rechts, auf dem Boden, zwischen den Wipfeln.

Der Alte blieb abrupt stehen. Er holte tief Luft. »Zeit, erwachsen zu werden. Die Waldgeister brauchen deine Hilfe.«

»Großvater, dazu brauchen sie mich doch nicht.«

»Du hattest bereits Kontakt mit den Menschen?«

Fliff spitzte die Ohren. Ein Grunzen und Quieken wurde lauter. Ihre Sinne schrien Alarm, forderten den Schutz eines Tunnels.

Zwischen zwei Birken brach ein Keiler durch das Unterholz. Er warf sich wild hin und her, wühlte die Erde auf und versuchte, einen Sportpfeil zu packen, der aus seiner Hüfte ragte. Blut lief in Strömen über seinen Hinterlauf. Seine Bewegungen wurden schwächer, die Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße zu sehen war.

Ein grünes Schillern stieg aus dem Waldboden auf und hüllte den Keiler ein. Seine Atmung wurde ruhig, er entspannte sich. Noch ein paar Mal hob sich sein Brustkorb, dann lag er still, der Blutfluss versiegte. Das Glitzern hing noch einen Moment in der Luft, dann wehte es fort.

Fliff suchte bei Rasmus Schutz. »Wer war das? Sowas tun Menschen nicht. Nicht die, die ich kenne.«

»Meine liebe, arme Fliff. Menschen haben weniger Verstand als eine Haselmaus. Sie haben keinen Zugang mehr zur Welt der Waldgeister. Deshalb müssen wir ihnen helfen.«

»Du meinst, du musst ihnen helfen.«

»Oder du, Kleines, wenn ich nicht mehr bin. Und widersprich jetzt nicht. Sieh den Tatsachen ins Gesicht.«

Ohne Widerworte ließ Fliff sich zurück führen. Sie schwebten durch den Wald, aus ihm heraus, zurück in die Tiefe, wo ihre Körper warteten. Fliff lag lange unter dem Alten geborgen. Sie verstand nicht, wie sie sich fühlte. Die Welt außerhalb der Umarmung erschien ihr kalt und bedrohlich. Als er sie freigab, fühlte sie sich verraten.