Mein Opa, der Schamane

Eine Berührung an ihrer Schulter! Erschrocken riss Fliff die Augen auf.

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?« Cäcilies Pupillen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»J- ja, Mama. Natürlich.« Oh verdammt. Fliff senkte den Kopf und schaute Cäcilie von unten an.

»Dann tu endlich was dafür!«

Oh, oh. Ein Königreich für eine kluge Antwort! Sie wurde aus Cäcilies Blick nicht schlau. Hatte sie über Fliffs vegetarische Anwandlungen geschimpft? Nein. Dafür blickte sie zu ernst. Mamas Augen begannen rötlich zu schillern. Oh nein! Nicht schon wieder! Wie Himbeeren, rot, rund, saftig und …

»Antwort!«

Fliff zuckte zusammen. »Ist ja gut! Ich übernehme heute freiwillig zwei Extrawachen.«

»Extrawachen?« Cäcilie wich zurück und legte den Kopf schief.

Mist. Daneben geraten.

»Was habe ich nur getan, um so eine Tochter zu verdienen? Du bist undankbar, hast die Aufmerksamkeitsspanne einer Motte und das Verantwortungsgefühl eines Radieschens.«

Großvater! Wenn es eine Rettung für Fliff gab, dann ihn. Sie wagte es, zur Orientierung kurz stehen zu bleiben, warf sich herum und tauchte in einen abschüssigen Gang ein. Die Erde um sie wurde feucht. An den Wänden gruben sich faserige Wurzeln von Büschen in die Tiefe, dann massivere von Bäumen. Der Gang hatte das Therapiegelände verlassen und führte sie unter den Wald. Endlich wichen die Wände und gaben den Blick auf eine Höhle frei. Flechten und Efeu verschlossen den Weg ins Freie. Schmale Lichtfinger durchdrangen das Gestrüpp und tauchten die Höhle in ein schummeriges Licht. Wasser perlte an den Wänden hinab und bildete an der Rückwand eine kleine Kuhle. Den Boden bildete eine dicke Moosdecke.

Ein Schatten trat in den Schimmer der Flechten. Großvater Rasmus! Sein Fell war farblos, an vielen Stellen lag die Haut blank. Der Körper war so ausgemergelt, als hätte er tagelang in der Wüstensonne gelegen. Ein einziger Zahn ragte über die dünnen Lippen.

»Hallo, Fliff.« Die Stimme zitterte sich schwach ihren Weg zu Fliff, ein Hauchen, ein Fisteln. Fliff sank mit dem Bauch zu Boden. Die Welt hörte auf zu existieren. Nichts außer dieser Stimme existierte noch.

Ein Fauchen in ihrem Rücken riss sie aus ihren Gedanken.

»Großvater, Hilfe!« Fliff sauste zwischen seine Beine, versteckte sich unter seinem Bauch und zog den Schwanz dicht an sich heran. Mamas Augen glühten in der Dunkelheit, kamen immer näher. Fliff drückte sich noch enger an seinen Bauch. Sein Schwanz legte sich um sie.

»Beruhige dich, Cäcilie. Ich rede mit Fliff.«

Mama blickte auf. »Rasmus!« Ihr Blick wurde weich. »Besser wäre es, bevor ich ihr die Haut abziehe!« Sie schüttelte den Kopf und verließ die Höhle.

Der Alte kicherte. »Lange nicht gesehen, Satansbraten!«

Mit der Stimme des Alten kamen mehr als nur Worte, viel mehr. Sie schloss die Augen und Erinnerungen stiegen in ihr auf:

Zähne packten sie im Nacken, hoben sie aus einem Haufen wild beißender Ameisen und setzten sie zwischen kräftigen Hinterbeinen ab. Eine Schnauze grub in ihrem Fell nach Insekten, Zähne kämmten ihre Haare. Sie lag zwischen seinen Pfoten und ließ sich von ihm den Sternenhimmel zeigen.

Rasmus seufzte. »Ach Fliff. Ich wollte, ich hätte mir meine Kindheit länger bewahren können. Ich musste viel zu früh Schamane werden. Nun ergeht es dir auch so. Wenn dir doch nur noch ein wenig mehr Zeit vergönnt wäre.«

Fliff ließ sich von der Stimme einhüllen, von seinen Worten wiegen.

»Keine Sorge, du bist noch ewig da.« Alle Probleme dieser Welt wurden für Fliff winzig.

Die Zunge des Alten kämmte das Fell zwischen Fliffs Augen. »Die Schöpfung ist kreativ, wenn es sich um Ärger dreht.«

Schlimmer als Mamas Wutausbrüche? Fliff schluckte, drehte sich auf den Rücken und krallte sich mit allen vieren am weichen Bauch fest. Der Alte ließ sich sinken und Fliff ging in einem Meer aus Wärme und Geborgenheit unter. Sie drückte sich zwischen Rasmus Vorderpfoten, rollte sich zusammen und deckte ihre Augen mit dem Schwanz zu. »Erzählst du mir eine Geschichte?«

Er drückte seine Schnauze in ihren Hals, seine Stimme klang direkt an ihrem Ohr. »So. Dir ist nach einer Geschichte.«

Fliffs Ohren zuckten, ihre Nackenhaare stellten sich, der ganze Körper prickelte. »Aber wahr muss sie sein!«

»Mein kleiner Wischmopp, ich erzähle nur wahre Geschichten. Kennst du die Waldgeister?«

Fliff richtete sich auf und sah Rasmus streng an. »Wofür hältst du mich?«

Der Alte lachte lautlos, sein ganzer Körper zuckte. »Genau, du frecher Flohfänger. Willst du hören oder erleben?«

»Auf unsere Weise, mach es auf unsere Weise!« Unvermittelt ließ sich Fliff fallen, entspannte jeden Muskel, atmete tief ein und aus. Ein und aus. Sie vergaß alles um sich herum. Nichts existierte mehr auf dieser Welt. Sie fühlte sich leicht, schwebte aus ihrem Körper empor, glitt durch den Felsen, hinaus in den Frühlingsmorgen. »Wohin bringst du mich?« Fliff spürte den Alten neben sich schweben.

»Schau einfach und warte.«

Die Bäume wuchsen dichter, das Sonnenlicht tauchte die Welt in ein sattes Grün. Ausgetretene Pfade wurden seltener und fehlten irgendwann ganz. Die Geräusche der nahen Bundesstraße verloren sich, bis sie durch Zirpen und Zwitschern ersetzt waren.

»Stehen Himbeerbüsche in der Nähe?«

»Kind, Kind! Gegen dich ist Buddha magersüchtig. Wo ist dein Sinn fürs Wesentliche? Und jetzt Ruhe. Bist du sicher, dass du siehst, was du siehst?«

Fliff schwieg betreten. Sie befanden sich am Rand einer kleinen Lichtung. Das Licht fiel in Streifen schräg durch die Kronen von Eichen und ließ das Moos auf Baumstümpfen hellgrün aufleuchten. Ihnen gegenüber lag eine Ricke im Gras und säugte ihr Kitz. Fliff ließ ihren Blick schweifen und entdeckte mehr und mehr Details: Eichhörnchen, die sich die Stämme rauf und runter jagten, ein Spinnennetz, das bisher unbemerkt direkt vor ihrer Nase im Licht glitzerte, ein kleiner Erdhaufen, der größer wurde und aus dem sich eine rosa Schnauze schob.

Etwas störte. Massiv.

»Ah. Du spürst es auch?« Der Alte rückte näher.

Fliff suchte die Lichtung ab, fand aber nichts, was zu ihrem Gefühl passte. Sie schaute erneut hin, versuchte, das Gesehene jeweils in Zusammenhang zur Umgebung zu bringen. Die Wurzel einer Weide! Sie schob sich aus dem Boden wie die Fangarme eines Kraken und krallte sich um eine junge Birke. Fliff spürte Durst, Wut und Bitterkeit von ihr ausgehen und sich über die ganze Lichtung ausbreiten.

Ein Schimmern lenkte sie ab, schwebte grün irisierend über die Lichtung und legte sich um den Schandfleck. Es schenkte der Wurzel Verständnis und sprach zu ihr. Tröstend enthüllte es ihr eine Wasserader in der Tiefe. Die Spannung wich aus der Wurzel, ihre Arme senkten sich tief ins Erdreich. Die Birke war frei.

»Das war … das …«

»Psst! Schau!«

Fliffs Augen hetzten hin und her. Jetzt, wo ihr Blick geschärft war, entdeckte sie das grüne Schillern überall. Es leitete die Schnauze des Kitzes zur Zitze, ein verkeilter Ast löste sich und trieb weiter im Bach, welke Blätter richteten sich auf. Unermüdlich tanzten die Lichter zwischen den Stämmen und wo sie gewesen waren, breitete sich Frieden aus.

»Das ist so schön!«

»Mein Liebes, das ist die Aufgabe der Waldgeister. Schön, dass du sie siehst. Jeder sieht, was sein Geist verstehen will.«

»Deshalb sehen die Menschen sie nicht.«

Er richtete sich auf. »Löse dich, ich möchte dir noch etwas zeigen.«

Er zog Fliff mit sich. Sie schaute über die Schulter, bis sie die Lichtung nicht mehr sehen konnte, und blieb stehen.

»Komm schon, mein Kleines. Sieh einfach genau hin.«

Diesmal fiel es ihr leichter. Das grüne Treiben war auch hier, um sie herum, soweit ihr Blick im Wald reichte. Sie ließ sich vom Alten weiterziehen und konnte gar nicht genug sehen, links und rechts, auf dem Boden, zwischen den Wipfeln.

Der Alte blieb abrupt stehen. Er holte tief Luft. »Es tut mir leid. Zeit, erwachsen zu werden. Die Waldgeister brauchen deine Hilfe.«

»Großvater, dazu brauchen sie mich doch nicht.«

»Du hattest bereits Kontakt mit den Menschen. Du weißt, wie sie sind. Du kannst sie aufhalten.«

Fliff spitzte die Ohren. Ein Grunzen und Quieken wurde lauter. Fliffs Sinne schrien Alarm, forderten den Schutz eines Tunnels.

Zwischen zwei Birken brach ein Keiler durch das Unterholz. Er warf sich wild hin und her, wühlte die Erde auf und versuchte, einen Sportpfeil zu packen, der aus seiner Hüfte ragte. Blut lief in Strömen über seinen Hinterlauf. Seine Bewegungen wurden schwächer, die Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße zu sehen war.

Ein grünes Schillern stieg aus dem Waldboden auf und hüllte den Keiler ein. Seine Atmung wurde ruhig, er entspannte sich. Noch ein paar Mal hob sich sein Brustkorb, dann lag er still, der Blutfluss versiegte. Das Glitzern hing noch einen Moment in der Luft, dann wehte es fort. In der Ferne war jugendliches Johlen und Lachen zu hören, das langsam verklang.

Fliff suchte bei Rasmus Schutz. »Wer war das? Sowas tun Menschen nicht. Nicht die, die ich kenne.«

»Meine liebe, arme Fliff. Menschen haben weniger Verstand als eine Haselmaus. Sie haben keinen Zugang mehr zur Welt der Waldgeister. Sie empfinden keinen Respekt. Deshalb müssen wir ihnen helfen.«

»Du meinst, du musst ihnen helfen.«

»Oder du, Kleines, wenn ich nicht mehr bin. Und widersprich jetzt nicht. Sieh den Tatsachen ins Gesicht.«

Ohne Widerworte ließ Fliff sich zurückführen. Sie schwebten durch den Wald, aus ihm heraus, zurück in die Tiefe, wo ihre Körper warteten. Fliff lag lange unter dem Alten geborgen. Sie verstand nicht, wie sie sich fühlte. Die Welt außerhalb der Umarmung erschien ihr kalt und bedrohlich. Als er sie freigab, fühlte sie sich verraten.

»Für dich, Großvater, will ich ein gutes Erdweibchen werden. Das beste, das es je gegeben hat. Versprochen.«

»Fang am besten bei deiner Mama an.«

»Ich werde ihr helfen, das Esszimmer in Ordnung zu bringen.«

Rasmus nickte wohlwollend. »Werde erwachsen, meine Kleine, und mache dich für deine Aufgaben bereit, für die kleinen und für die großen.«