Engelsschwingen
Wie eine Furie hetzte Ciarraí den Pfad entlang. Eine düstere Gestalt schälte sich vor ihr aus der Finsternis. Ciarraí hob den Dolch. Plötzlich blieb sie stehen, als sei sie gegen eine Mauer gerannt. Der Dolch flog ihr aus der Hand, hoch hinauf, und schwebte einen Moment in der Luft. Die Klinge blitzte im Sternenlicht. Dann neigte sich seine Spitze nach unten, er fiel und bohrte sich mit mörderischer Wucht in den Kopf der Gestalt.
Ciarraí löste sich aus ihrer Starre und schritt zu der Gestalt. Der Dolch steckte bis zum Heft in einer Melone; der Aufprall hatte den Mantel, der an ihr befestigt war, losgerissen. Sie begutachtete ihr Werk und fluchte; die Mitte war einen Finger breit verfehlt worden. Sie lief den Weg zurück und wiederholte die Übung, bis die Sonne aufging und sie schwer atmete. Den Pfad hinauf näherten sich Schritte.
Ein alter Mann kam um eine Kurve und blinzelte in die aufgehende Sonne. »Hör auf, Ciarraí! Du wirst müde, dein Ziel ungenau und deine Laune schlechter.« Er trug einen Korb, aus dem es nach frischem Brot und Tee roch. Er breitete ein Tuch auf dem Boden auf und sortierte die mitgebrachten Schätze darauf. »Iss jetzt!«
Widerstrebend warf sie einen Blick auf den Haufen durchlöcherter Melonen. Aber er hatte recht. Alles tat ihr weh, und ihre tauben Finger konnten den Dolch kaum mehr spüren. Sie seufzte, schlüpfte aus den Stiefeln, setzte sich aufs Tuch und schlug die Beine unter. Der erste Schluck Tee entfachte einen Bärenhunger in ihr, und sie wühlte sich durch Brot und Früchte. »Feari, du bist meine Rettung!«
Er nickte, lächelte und griff selbst zu. »Lass doch endlich gut sein! Wie lang übst du das schon? Was willst du am letzten Tag noch lernen, was du in den Jahren davor nicht gelernt hast? Du bist selbst für eine Daoine Sidhe perfekt.«
Sie hielt inne, eine Traube zwischen den Zähnen. »Nicht mächtig genug, sie zu schützen! Ihre Hand krampfte sich um ein Medaillon. Langsam zog sie es aus dem Ausschnitt und öffnete es.
»Nein! nicht, Ciarraí!«
Für den Bruchteil eines Momentes sah sie das Bild eines Mannes und zweier Kinder, dann schloss Feari seine Hände darüber.
»Bitte, nur ein Blick!« Ihre Augen wurden feucht.
»Nein, Liebes. Nicht heute. Lass den Hass nicht in dein Herz. Artath wird ihn spüren. Er nährt sich von ihm. Deine Gefühle werden dich verraten!«
Sehnsüchtig sah Ciarraí auf die Kette, die in ihrer Hand lag, und auf Fearis Hand, die ihre Faust um das Medaillon schloss. »Ich bin müde. Mich hält nichts mehr in diesem Leben!«
»Ich kann dich gut verstehen! Jeder von uns. Es gibt keine Familie, aus der nicht ein geliebter Mensch dem Hexenkönig zum Opfer gefallen wäre. Aber wenn uns einer von diesem Monster befreien kann, dann eine Daoine Sidhe!«
»Wir sollten noch etwas warten, noch einmal darüber nachdenken!«
»Damit noch mehr Menschen leiden müssen?«
»Sie werden für immer leiden, wenn ich versage! Unser Plan basiert auf purem Zufall.«
Feari strich ihr über das Haar. »Es ist der Beste, den wir haben. Der Einzige.«
Sie nickte. Aber in ihrem Inneren war sie alles, nur nicht überzeugt. Langsam ließ sie die Kette los. Sie zog einen Ring vom Finger, löste ihre Ohrringe und legte sie in Fearis Hände. »Ich will nicht, dass dieses Monster etwas von mir bekommt.« Mit dem Dolch ritzte sie ihren Arm und ließ einen Tropfen Blut auf das Medaillon tropfen. »Falls er überlebt. Damit …«
»Nein, Ciarraí! Du wirst es schaffen. Und du sollst neben deiner Familie Ruhe finden. Du, und nicht nur ein Tropfen von dir!«
Ihre Miene entspannte sich, ihre Augen sahen verträumt ins Nichts, ihre Lippen sprachen zu jemandem, den nur sie sehen konnte. Dann straffte sie die Schultern. »Heute! Heute Nacht!« Sie würde alles geben. Und wenn es nicht reichte, hatte sie es wenigstens versucht.
Als sie aufsah, war jede Emotion aus ihrem Gesicht gewichen. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen Feari und schloss die Augen. Ihr Plan, mit all seinen irrsinnigen Unwägbarkeiten, wurde in ihr lebendig.
Das Flusswasser würde eisig sein. Was, wenn ihre Salbe nicht genug wärmte? Oder sie verbrühte? Selbst, wenn sie überlebte, war da das Gitter, das den Abwasserkanal verschloss. Man hatte nichts dem Zufall überlassen, seine Streben waren aus armdickem Stahl gefertigt. Kein Hindernis für Drachenodem, aber niemand hatte ihn jemals auf so engem Raum eingesetzt, jedenfalls kein Überlebender! Ciarraí atmete tief durch. Und die Karten? Sie waren Hunderte von Jahren alt. Was, wenn der Gang zum Verlies nicht mehr existierte? Wenn sein Ende nicht von Erde, sondern von Mauerwerk verschlossen war? Falls sie dann wider Erwarten noch lebte, standen Legionen von Wachen zwischen ihr und dem Thronsaal. Ein einziger Fehler, eine Unachtsamkeit, und sie war tot.
Nein! Es war hoffnungslos! Sie würde nie auch nur in die Nähe von Artath gelangen. Ciarraí atmete schwer. Sie …
* * *
… zog leise den Dolch aus der Brust der Wache. Auf dem Weg, den sie vom Fluss genommen hatte, in den Wachräumen und in den Gängen, gab es jetzt kein Leben mehr. Und keine der Wachen war zum Schreien gekommen! Zitternd vor Erschöpfung öffnete sie ihre Feldflasche, trank und warf sie weg. Sie würde sie nicht mehr brauchen. Die Flasche nicht, nichts mehr. Ihre Hand griff zum Hals, griff ins Leere. Sie lächelte. Auch das Medaillon brauchte sie nicht mehr.
Sie rief sich zur Ordnung. Nicht leichtsinnig werden! Nicht vom Erfolg einlullen lassen! Nicht auf die letzte Strecke unvorsichtig werden! Sie legte den Dolch beiseite, zwang sich zur Ruhe und massierte den Unterarm, bis sich die Muskeln geschmeidig anfühlten. Erst dann nahm sie den Dolch wieder auf und sah sich um. Vereinzelte Fackeln an den Wänden verbargen moosbewachsenen Fels mehr, als sie ihn ausleuchteten. Vor ihr wand sich eine Treppe nach oben. Sie setzte behutsam einen Fuß nach dem auf die glitschigen Stufen.
Dann stand sie vor der Kerkertür. Stimmen drangen zu ihr durch. Der Hass flammte aus dem Nichts in ihr. Sie zwang sich zur Ruhe. Als sie sich ihrer sicher war, drückte sie die Tür einen Spalt auf, ließ ihre Augen sich ans Licht gewöhnen und spähte hinaus. Keine Wachen! Zu beiden Seiten führten schmale Treppen auf die Galerie, vor ihr versperrte eine verzierte Tür den Weg zum Thronsaal.
Ihr Götter habt Dank, die Karten stimmten! Sie öffnete leise die Tür. Vor ihr lag der Thronsaal. Die spärliche Beleuchtung reichte eben, um die gegenüberliegende Wand und einen Teil der Galerie sehen zu können. Bedienstete huschten leise umher. Niemand sprach oder lachte gar, niemand suchte Blickkontakt, man konnte den Fall einer Feder hören. Angst lag in der Luft. Eine kleine Reihe von Bittstellern stand vor dem Thron. Sie hauchten ihre Bitten hervor, und falls eine Antwort kam, konnte Ciarraí sie nicht hören.
Bitter verzog sie das Gesicht. Für einen Moment sah sie sich dort knien, um das Leben ihrer Familie flehen. Es kostete sie all ihre Kraft, das Bild zu verdrängen. In diesem Raum wurde selten ein Wunsch erfüllt. Sie konzentrierte sich wieder. Gegenüber des Throns wurde ein großes Portal von Speerträgern bewacht, hinter dem Thron führten zwei Wendeltreppen nach oben. Auch vor ihnen standen Wachen.
In der Mitte … sie versuchte mit Gewalt, hinzusehen, und schaffte es nicht. Stattdessen blieb ihr Blick am gewaltigen Kronleuchter über dem Thron hängen. Sie zog sich zurück und sank zu Boden. Ihr Atem ging schwer.
Etwas störte sie, etwas stimmte nicht. Sie spähte wieder in den Saal. Die Galerie! Sie sah auf die Galerie, aber hier war keine Wache postiert. Ihr Herz setzte einen Moment aus. Wo waren die Bogenschützen? Ihr Plan löste sich in nichts auf. War alles umsonst gewesen? Nein! Nicht aufgeben! Sie suchte einen Spiegel, eine spiegelnde Fläche, irgendetwas, das ihr den Blick auf die Galerie über ihr schenkte – nichts. Sie dachte nach. Warum sollte es über ihr keine Fackeln geben? Sie sah auf den Boden weit vor sich und lächelte. Es gab Fackeln, und sie warfen Schatten auf dem Boden, verrieten die Wachen über ihr.
Schritte näherten sich und rissen sie aus ihrer Konzentration! Jemand öffnete die Tür von außen. Ciarraí glitt hinter die Tür. Zwei Wachen stampften mit vorgehaltenen Schwertern herein. War es Routine, oder hatte sie sich verraten? Egal, es ging los, kein Zurück mehr! Leise schloss sie hinter ihnen die Tür. Sie kannte die beiden nur zu gut und biss die Zähne zusammen. Wie gerne würde sie ihnen ein wenig von all dem Leid zurückgeben! Sie riss sich zusammen – es musste ohne Lärm gehen. Sie schlitzte dem einen die Kehle auf, dem anderen hielt sie den Mund zu und verpasste ihm einen Stich in die Leber. Lautlos gingen sie zu Boden. Was hatte die beiden alarmiert? Mehr von ihnen waren sicher schon auf dem Weg hierher. Sie saß fest, und ihre Position war denkbar ungünstig. Das konnte sie nicht zulassen. Nicht so kurz vor dem Ziel!
Sie wartete, bis sie Schritte durch die Tür hörte, und stieß die Tür auf. Zehn! Zehn Mann vor ihr! Unter keinen Umständen durfte sie sich von ihnen aufhalten lassen. Sie verzichtete darauf, sie niederzumachen. Sie sprang über die beiden am Boden Liegenden und unterlief die Speere der anderen. Bis sie ihre Schwerter gezogen hatten, war sie schon auf halben Weg zum Thron. Sie atmete aus, schickte ein Gebet in den Himmel und überließ ihren Körper dem Training.
Der Thron kam rasend schnell näher. Wo blieb der Pfeil? Sie verlangsamte ihr Tempo. Jetzt schieß doch! Noch langsamer konnte sie nicht rennen, das würde auffallen. Endlich hörte sie das ersehnte Pfeifen. Ciarraí drückte auf eine verborgene Stelle am Dolchgriff, und ein grüner Film floss auf die Klinge. Ein rascher Schritt rückte ihre Hand in die Schussbahn. Sie wappnete sich gegen den Schmerz, es kostete sie all ihre Kraft, die Hand zu lassen, wo sie war. In dem Moment, als der Pfeil sich in ihre Hand bohrte, riss sie den Arm hoch. Im selben Moment berührte ihr Fuß die erste Stufe des Throns. Ein magisches Feld flammte auf, hüllte sie ein, bannte sie. Sie war nicht länger fähig, sich zu rühren. Der Dolch flog in den Kronleuchter, das Feld erfasste auch ihn, regungslos schwebte er in der Luft.
Ciarraí konnte ihr Glück nicht fassen! Sie verbannte den Triumph aus ihrer Seele. Sie durfte sich nicht die geringste Unaufmerksamkeit erlauben. All ihre Hoffnung ruhte auf Artaths Arroganz und seiner Selbstherrlichkeit. Sie musste ihn ablenken, bei Laune halten, seine Konzentration zerstreuen.
Kaum hörbar schoben sich seidene Schuhe in ihr Blickfeld, eine Hand hob ihr Kinn, bis ihre starren Augen in Artaths Gesicht sahen. Graue Haare flossen unter seiner Krone hervor. Seiner Ausstrahlung tat das Alter keinen Abbruch, im Gegenteil: Er stand wie ein dunkler Gott vor ihr.
»Ciarraí, wie schön dich zu sehen. Du hättest auch die Tür nehmen können. Das Abendessen reicht für zwei.«
Wie sie sich wünschte, die Augen schließen zu können! Die Kälte seines Blickes verwandelte ihren Magen in einen eisigen Klumpen. Wenn ihm auffiel, dass er keinen Dolch hatte fallen hören, war alles umsonst.
Sein Blick wurde herablassend. »Du bist in die Jahre gekommen. Das war das lausigste Attentat, das ich je erlebt habe. Ich habe dich gerissener in Erinnerung. Obwohl – Du bist so einiges, aber nicht dumm!« Er wandte sich an die Wachen. »Durchsucht sie nach weiteren Waffen!«
Warum tat er es nicht selbst? Ihr Herz raste. Er musste zu ihr kommen, er musste einfach! Die Vorstellung, dass der Dolch ihn verfehlen könnte, brachte sie fast um. Aber Artath war zu vorsichtig und blieb zurück. Die Männer rissen ihr die Kleider vom Leib und untersuchten sie. An ihrem Stiefel wurden sie fündig, sie hörte ein leises Klicken. Eine Wache rutschte auf den Knien zum Thron und hielt ihn hoch. Eine Klinge ragte aus seiner Spitze.
Er nahm ihren Stiefel und besah sich die Klinge, roch an dem Film, der darauf lag. »Engelsschwingen? Im Ernst? Nach all dem, was wir hinter uns haben?« Ein kaltes Lachen lag in der Luft, getragen von Grausamkeit. »Oder liebst mich noch immer?«
Die Bosheit aus dem Mund des Mörders ihrer Familie schnitt ihr ins Herz wie ein glühendes Messer. Ohne das magische Feld hätte sie sich mit bloßen Händen auf ihn gestürzt und alles verdorben. Er würde leiden! Dafür und für all seine Schandtaten. Der Gedanke half ihr über den Moment.
Ein hartes Lächeln verzog Artaths Mund. »Engelsschwingen! Einen sanfteren Tod kann man sich nicht wünschen.«
Noch ein Schritt! Oh ihr Götter, lasst ihn nur noch einen einzigen Schritt näher kommen! Niemals würde er sich den Spaß vergönnen, sie persönlich zu töten, dazu kannte sie ihn zu gut,
Sie wurde bitter enttäuscht, er warf der Wache den Stiefel vor die Füße. »Sie soll an ihrer eigenen Waffe sterben!« Langeweile überzog sein Gesicht. Er drehte sich fort.
Bleib hier, oh bitte bleib hier! Sie fühlte eine kühle Berührung an ihrer Hand, als die Wache die Klinge ansetzte. Ein warmes Gefühl breitete sich von dort aus, floss durch ihren Körper, spülte ihre Angst und ihren Schmerz fort, suchte ihr Herz. Sie wehrte sich mit aller Kraft. Nicht jetzt, noch nicht! Sie brachte ein Krächzen zustande.
»Du möchtest noch etwas sagen?«
Sie bewegte lautlos die Lippen. Ihr Körper fühlte sich wie in Watte, alles wurde leicht.
Endlich kam er den letzten Schritt näher, legte sein Ohr an ihren Mund. »Nun sag schon!« Er lockerte den magischen Bann, der ihre Zunge fesselte, soweit, dass sie sprechen konnte.
Der Rand ihres Gesichtsfeldes verdunkelte sich. Sie glitt zu Boden. Artath hielt sie in seinen Armen, und ein einziges Mal im Leben fühlte sie sich glücklich dabei, denn er stand genau da, wo sie ihn haben wollte! Weit über ihm sah sie den Dolch. Verborgen zwischen den Armen des Kronleuchters schwebte er, gebannt wie seine Besitzerin.
»Die Engelsschwingen waren für mich, nicht für dich!« Sie lächelte und sah Artath an. Kein lebender Mensch kann eine Waffe in deine Nähe bringen. Kein lebender … lebender … Ihr Blick verlor sich in der Unendlichkeit.
Das Letzte, was sie sah, war ihr Dolch. Nicht länger an sie gebunden, neigte er sich langsam. Das Kerzenlicht flackerte auf der Klinge. Dann fiel er, immer schneller, streifte Artath nur, aber das reichte.
Und für Artath hatte Ciarraí keine Engelsschwingen gewählt.