Eine kleine Geschichte, die ich für jemanden geschrieben habe,
der von seinem geliebten Hund Abschied nehmen musste.
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Eine bittersüße Geschichte
»Was…?«
Ich sprang auf und schüttelte mich. Die Müdigkeit perlte von mir ab wie ein Regenschauer. So gut hatte ich mich schon ewig nicht mehr gefühlt. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, wo ich hier war, wie ich hier her kam, und wo dieses »Hier« war.
Also Nase, Ohren und Augen auf! Den kleinen Raum und den kalten Metalltisch hatte irgendwer geklaut und an seine Stelle eine – ja was? Ich stand in hüfthohem Gras, das meinen Bauch kitzelte. Rechts und links ragten Felsen in die Höhe, an denen mehr Pflanzen wuchsen, als ich in meinem Leben je gesehen hatte. Wasser tropfte an ihnen hinunter und sammelte sich zu einem kleinen Rinnsal, das von mir fort floss. Weit über mir entdeckte ich das Blau des Himmels. Es roch phänomenal, ich würde den ganzen Tag brauchen, all diese Gerüche zu sortieren. Ein Zirpen und Pfeifen und Singen lag in der Luft.
Autsch! Nicht nur das, sondern auch tieffliegende Vögel. Ich schnappte nach ihnen. Wartet nur! Der Nächste wird mein Abendessen!
Ich folgte dem Rinnsal und sprang dabei von Wand zu Wand und untersuchte Duftspuren. Hin, wieder zurück, dann wieder auf Start, um sie mit welchen zu vergleichen, die ich schon erschnüffelt hatte. Lecker! Rehe, Hasen und einen Haufen Kollegen. Und Menschen, also war auch für Leckerli gesorgt. Das wurde ja immer besser! Dann wichen die Wände zurück und gaben den Blick auf ein riesiges Tal frei. Wälder und Lichtungen wechselten sich ab. Das Rinnsal war mittlerweile ein kleiner Bach, der sich als Wasserfall in die Tiefe stürzte. Es war einfach – paradiesisch! Ich legte mich erst mal hin und ließ den Blick schweifen. Meine Ohren und meine Nase waren unfähig, stillzuhalten, um all die Eindrücke aufzunehmen.
Was war das? Dieser Geruch … ich würde ihn überall heraus schnüffeln können. Meine Leine! Frauchen! Gassi! Futter! Nur- wo war sie? Ich drehte mich ein paar mal um mich selbst – weit und breit keine Leine. Und der Druck um meinen Hals fehlte auch! Dann halt immer der Nase nach. Am intensivsten war der Geruch an meinem Bauch. Ich leckte ein paar Mal drüber, ohne schlauer zu werden. Der Geruch verlor sich Richtung Berg und war schon nach wenigen Sprüngen kaum mehr wahrzunehmen. Dafür gab es eine neue Spur – immer von meinem Bauch ausgehend.
Ich beäugte meinen Bauch misstrauisch. Aber nach einer Weile wurde es langweilig. Die Neugierde auf das Tal siegte. Ich sprang auf die Beine und suchte mir einen Weg hinunter. Schön vorsichtig! Wäre jammerschade, wenn ich mit einem Stachel im Haxen ankommen würde.
* * *
Ich roch das Salz ihrer Tränen, bevor ich sie hörte, und ich hörte ihr Schluchzen, bevor ich sie sah. Trauer. Sehnsucht. Zaudern. Da saß sie auf einem Stein, die Knie angezogen, die Arme um die Beine geschlungen, und sah mich an. Sie war noch jung, aber ihre Augen schauten alt und abgestumpft. Sie winkte mir schwach zu. »Hallo!«
Ich setzte mich ein paar Schritte vor ihr ins Gras. »Äh, Hallo.« Die Frau passte mit ihrem Schmerz so wenig in diese Welt, wie Hundefutter in eine Katzendose. Ich legte den Kopf zwischen meine Pfoten.
»Neu hier, was?« Sie nickte den Hang hinunter. »Einfach weiter die Richtung, du kannst die Anderen nicht verfehlen. Viel Spaß!«
»Klar. Danke.« Ich sprang auf und lief weiter. Ein ziehendes Gefühl im Bauch ließ mich stehen bleiben. Ich sah über die Schulter zurück. »Magst du nicht mitkommen?«
Sie lächelte, schüttelte den Kopf und sah zurück zum Berg.
Wer nicht will, der hat schon. Ich trottete weiter.
»Pass besser auf!«
Die Warnung kam für meinen Geschmack etwas spät. Das Gefühl im Bauch wurde unangenehm, der Geruch nach Leine betäubend. Entsetzt ließ ich mich auf die Seite fallen und sah an mir herunter. Von meinem Bauch kräuselte sich eine schwarze Schnur Richtung Berg. Ich kehrte zur Frau zurück. Das Gefühl verschwand, die Schnur auch. Ratlos legte ich mich hin, sah sie fragend an. Sollte ich sie fragen? Oder einfach liegenbleiben, schön sicher mit meinem Gewicht auf dem Bauch? Hörte sich wie die bessere Wahl an. Sollte erst mal sie reden. »Wer bist du?«
Sie lachte kurz und strich mir über den Kopf. »Ich bin Steffi.«
»Und du magst es, auf Steinen zu hocken und zu heulen?«
»Nein, tu ich nicht. Aber ich kann nicht zu den anderen ins Tal runter.«
Misstrauisch beäugte ich sie. »Warum kannst du nicht? Du hast zwei Beine, und die reichen runter bis auf den Boden. Hast du es schon mal versucht?«
»Warum fragst du, was du schon weißt? Schau!« Sie nahm zwei bedächtige Schritte und legte beide Händen auf den Bauch. Eine schwarze Schnur wurde sichtbar, die aus ihrem Bauch ragte, sich durch die Luft schlängelte und zwischen den Felsen des Berges verschwand. Sie wich den Weg zurück. Die Schnur verblasste mit jedem Schritt und ihre Mine entspannte sich. »Siehst du? Ich kann nicht.«
Ja gab es denn sowas? Steffi hatte auch so eine komische Hundeleine! Jetzt konnte ich mich nicht länger beherrschen und schnüffelte an meinem Bauch. »Was zum Teufel ist das?«
Steffi schloss die Augen und schwieg.
Ich schlich zu ihr hinüber und untersuchte ihre Schnur. Roch keine Spur nach Leine. Eher … Ohne zu denken, leckte ich daran. Steffi schrie, packte die Schnur und drehte sich weg. Stück für Stück verschwand die Schnur in der Luft.
Und dann kamen die Bilder: Steffi saß hinter dem Steuer, das Handy am Ohr. Sie lachte schallend, Tränen flossen ihr über das Gesicht. Ganz schlechte Idee! Ich glaube, den Baum hat sie nicht mehr sehen dürfen. Dem Anschein nach eine Eiche, oder eine Kastanie. Der Baum näherte sich so schnell, dass ich mich duckte und fiepte. Dann war das Bild weg, ohne Details verraten zu haben.
Mit offenem Mund saß ich vor ihr. »Alles klar! Muss ein wichtiges Telefonat gewesen sein?«
Ihr Blick verschloss sich. »Das war jetzt nicht sehr feinfühlig!«
»Tschuldigung.«
Sie schlug die Hände vors Gesicht und heulte hemmungslos. Ich drückte mich an sie und langsam beruhigte sie sich. Aus einem Schleier voll Tränen sah sie mich an. »Ich kann nicht zu den anderen. Verstehst du das nicht?«
Ganz vorsichtig schüttelte ich den Kopf. Nur nicht noch einen Heulkrampf provozieren! Lieber selbst nachsehen.
Ich schnüffelte und die Schnur wurde wieder sichtbar. Steffi schrie leise auf, packte die Schnur fester, wickelte sie um ihre Handgelenke und presste sie an die Brust. Bilder stiegen in mir auf. Eine Menge in schwarzen Klamotten stand um ein viereckiges Loch im Boden, in ihrer Mitte ein Mann. Er hielt zwei kleine Mädchen an den Händen.
Ich sah auf. Steffi heulte sich die Seele aus dem Leib. Diesmal ließ ich ihr Zeit. Dazu fiel mir nichts Tröstendes mehr ein.
»Verstehst du jetzt? Sie sind noch dort …« Sie nickte Richtung Berg. Die schwarze Schnur schlängelte sich träge den Weg hinauf. »Sie sind ganz allein. Und ich kann nicht bei ihnen sein. Ich habe alles versucht, aber ich kann nicht zurück. Den Weg aus den Bergen kann man nur in eine Richtung gehen.«
»Ich denke, das lässt sich nicht ändern. Dir bleibt nichts anderes übrig, als zu warten. Früher oder später tauchen sie hier auf.«
»Und was glaubst du, mache ich hier?«
»Gut. Klar. Aber kannst du nicht bei den anderen im Tal warten? Und derweil Spaß haben?«
»Während mein Mann und meine Kinder leiden?«
»Hm.« Ich schaute der Schnur nach. »Mein Frauchen wollte immer, dass ich glücklich bin. Wenn ich krank war, hat sie das jedes Mal furchtbar aufgeregt.« Und an meinem letzten Tag … mir sanken die Ohren bis zum Boden. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Rudel dich unglücklich sehen will. Klar, das mit dem Handy am Steuer war selten blöd. Aber irgendwann ist auch mal genug. Hör auf, dich selbst zu bestrafen!«
»Das tue ich nicht.«
»Tust du doch!«
»Nein!«
»Und wie du das tust!«
Steffi stemmte die Hände in die Hüften und holte tief Luft. Ich legte einfach nur den Kopf schief. Da fing sie an zu lachen, ein wunderschönes glockenhelles Lachen, konnte nicht mehr damit aufhören, bis sie zurück auf den Stein plumpste.
Ich stellte mich auf, legte meine Pfoten auf ihre Schultern und zog ihr die Zunge quer durchs Gesicht. Definitiv Lachtränen! Das schmeckte ganz anders als Tränen der Trauer.
Sie verbarg ihr Gesicht in meinem Fell und kraulte mich hinter den Ohren. »Du kannst einem die Trauer ganz schön vermiesen.«
»Wenn ich nicht grad steif vor Schmerzen auf einem kalten Metalltisch liege.« Gegen meinen Willen musste ich fiepen. Jetzt zog Steffi mich an sich und tröstete mich. »Wie es jetzt wohl Frauchen geht? Sie hat mich so sehr geliebt, dass sie mich gehen ließ.«
Wir saßen eine Weile da und hingen unseren Gedanken nach. Steffi zupfte eine kleine Blume aus und drehte sie in den Fingern. »Wie kann ich hier glücklich sein, wenn ich nicht weiß, ob es ihnen gut geht?«
»Und du dran schuld bist?« Ich sah sie von unten herauf an.
»Sagt grad der Richtige! Warum bist du denn noch nicht da drunten?«
Weil ich schuld daran bin, dass Frauchen traurig ist? Hier war definitiv ein Themenwechsel angezeigt. »Ich bin sicher, dass dein Rudel mit dem Verlust klarkommt und glücklich sein kann.«
»Woher willst du das wissen? Und überhaupt – glücklich ohne mich?« Sie biss die Zähne zusammen und lehnte sich zurück.
Verflixt. Ob sich Frauchen einen neuen Pudel zulegen würde? Ich sah Steffi an, und es war, als würden wir unsere Gedanken lesen. »Gut. Dein Mann und deine Kinder schaffen das. Und auch Frauchen schafft das. Ganz ohne uns.«
»Frustriert warf Steffi die Blume weg. Und wofür sind dann diese dämlichen Schnüre?«
»Naja, wenn sie nichts mit unseren Hinterbliebenen zu tun haben, sind sie wohl wegen uns da.«
»Na super!«
Ich drehte mich auf den Rücken und machte die Beine breit. Steffi kraulte meinen Bauch. Ich stupste sie an, sowie sie eine Pause einlegte. »Sag mal … hat eigentlich jeder so ein Leine?«
Sie nickte stumm.
»Warum ist der Landstrich hier dann nicht voll mit Leuten wie dir? Öh, uns. Bin wohl nicht der Erste, den du hier triffst.«
Sie kaute sichtlich auf der Antwort herum, und irgendwie wollte ich sie auf einmal gar nicht mehr hören. Es dauerte, bis sie so weit war. »Es ist bei jedem anders. Manche werden abgeholt, und ihre Schnur löst sich auf, ohne dass sie diese je gesehen hätten. Die meisten verkriechen sich in eine Ecke, hadern mit sich und der Welt, und eines Tages können sie weiter gehen.«
»Aber nicht alle.« Ich schloss die Augen. Ich war ja so doof. Jetzt würde es kommen. Die Vorstellung, mit Steffi hier eine Weile zu sitzen, war ja reizvoll. Aber für immer?
Sie holte tief Luft. »Ich hab hier ein paar Leute getroffen, die festsitzen. Sie können nicht zurück, und die Aussicht auf das Tal macht ihnen mehr Angst, als die Einsamkeit hier oben. Die Aussicht auf die, die sie da drunten treffen könnten, und was sie ihnen angetan haben.«
»Ganz schön fies.« Mir fielen schlagartig alle Todsünden meines Lebens ein; vom Haufen auf Frauchens Teppich über leicht verspielte Schuhe bis zur geklauten Lasagne. »Und wenn man einfach ein wenig Mut zusammenkratzen muss, um dafür gerade zu stehen? Wenn du hier sitzen bleibst, wird deine Schnur doch auch nur dicker. Geht es dir besser, wenn dein Rudel sieht, dass es dir schlechter geht – also ich meine besser – ich meine … ach, du weißt schon!«
Steffi musste schwach lächeln. »Vermutlich hast du recht.« Da wusste ich, dass ich gewonnen hatte! Sie wand sich noch ein wenig. »Aber … da drunten kenn ich doch niemanden.«
»Soll man lügen? Du kennst mich! Und …« Ich kniff den Schwanz ein. »Mir ist auch ein wenig mulmig.« Vor allem wegen der Lasagne. Frauchen hatte sich so darauf gefreut! Warum gehen wir nicht zusammen runter?«
»Und die Schnur?«
Ich legte den Kopf schief. »Ich hätte da eine Idee. Wenn du es nicht kannst, und wenn ich es nicht kann, dann schaffen wir es vielleicht gemeinsam?«
Steffi presste die Lippen aufeinander und sah mich stumm an. Unendlich vorsichtig biss ich in ihre Leine und zog an ihr. Steffis Augen wurden groß, sie öffnete den Mund, aber sie wehrte sich nicht. Die Schnur entglitt ihren Händen, schwebte noch eine Weile in der Luft und verging in schwarzem Nebel. Steffi keuchte auf und presste die Hand vor den Mund.
»Wie geht es dir?«
Sie sah mich an. »Ich habe die Erinnerung an sie nicht verloren. Sie sind noch da. Aber sie tut nicht mehr weh.«
»Super! Lass uns gehen!«
»Moment, mein Guter. Was ist denn mit deiner eigenen Schnur?«
Meine Bauchschmerzen waren schlagartig zurück! Obwohl die Grenze zehn Schritte weiter lag, wurde meine Leine sichtbar. Als feiner Rauch kräuselte sie sich von meinem Bauch und schlängelte sich den Weg hoch. Und roch dabei verführerisch nach Frauchen. Steffi berührte sie mit der Hand.
Bilder kamen. Frauchen stellte mir den Futternapf hin. Sie warf mein Stöckchen. Sie kraulte mich zwischen den Ohren. Sie saß auf dem Sofa und ich legte meinen Kopf auf ihren Schoß. Und – ich fiepte – eine leere Kasserolle stand auf dem Tisch.
Steffi schloss die Hand um meine Schnur. »Darf ich?«
Ich zuckte zurück und dachte nach. »Nein. Ich denke, ich kann das aushalten. Ich kann sie loslassen und dennoch bei mir behalten.«
»Du meinst, du schaffst den Weg nach drunten? Fort von ihr?«
»Es ist einen Versuch wert. Und ich kenne sie, sie ist stark, sie schafft das ohne mich. Und ich will den Kontakt zu ihr halten. Damit ich sie schnell finde, wenn sie in die Berge kommt.«
Steffi streichelte mir über den Kopf. »Du bist ein sehr weiser Pudel!« Ein feines Lächeln lag auf ihren Zügen. Sie hob die Hand. Das Ende meiner Leine löste sich in Rauch auf.
»Kleiner Feigling! Kleiner, lieber, süßer Feigling!«
Sie stand auf und begann den Abstieg nach unten.
Ich spürte meinen Gedanken nach. Frauchen war noch da. Und sie hatte wegen der Lasagne überhaupt nicht mir mir geschimpft. »Du lässt mich jetzt aber nicht allein, oder?«
Sie lachte, und in ihren Augen war wieder Leben. »Nur, wenn du weiter so zauderst.«