Was, wenn das Schreiben von Geschichten nicht nur im Autor und in seinen Lesern zur persönlichen Realität wird?
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Der letzte Mensch
Michelle rührte in ihrem Kaffee. Das Muster der Tasse zauberte ein schwaches Lächeln auf ihre eingefallen Züge. Wie lange trank sie aus dieser Tasse? Dreißig Jahre? Vierzig? Die kleine Scharte am Griff ließ sie an Tibur denken. Sie schloss die Augen. Dieser Vollpfosten. Der Heinrich-Mann-Preis kann überwältigend sein, zugegeben. Aber ein Grund, ihre Lieblingstasse fallen zu lassen? Er war immer etwas nah am Wasser gebaut gewesen. Ihr wurde warm ums Herz. Wie hatte er sich über ihr Geschenk gefreut; sein Gesicht schwebte lebendig vor ihr, als Lisa mit dem Preis in der Hand hinterm Vorhang vor die Kameras zu ihm trat. Ja, damals …
Sie seufzte und sah auf. Heinrich-Mann-Preis. Der Rahmen mit der Urkunde hing schief an einem rostigen Nagel, das Glas war trüb, die Ecken vergilbt. »Für besondere Verdienste an der deutschen Literatur, vierter April 2021«.
Es wurde Zeit. Sie blickte zurück zur Tasse und verzog das Gesicht. Die rasche Bewegung ließ den Schmerz in ihren Nacken strahlen. Michelle legte den Löffel auf die Untertasse und trank die Tasse in einem Zug leer. Die Wärme tat ihr gut, die Schmerzen ebbten ab.
Sie griff nach ihrem Stock und stand mühsam auf. Ohne nach draußen zu blicken, öffnete sie die Haustür, trat hindurch, wandte sich um und schloss sie sorgfältig ab. Die Stufe … Michelle schloss die Augen, kehrte dem Haus den Rücken, tastete unsicher mit dem Stock und machte einen vorsichtigen Schritt. Sie trat dennoch ins Leere. Der Schmerz kam so heftig, dass sie ein lautes Stöhnen nicht unterdrücken konnte. Sie zwang sich, langsam loszugehen.
Die Augen hielt sie fest geschlossen. Ihre Füße schritten durch kühles Gras, nach links und geradeaus Bäume und Büsche. Unter einem Apfelbaum stand eine kleine Sitzbank aus Metallgeflecht. Rechter Hand …
Eine Böe ließ sie schwanken. Ihre Lippen trockneten im heißen Wind schmerzhaft aus, Sandkörner schmirgelten über ihre Haut. Sie öffnete die Augen, die Vergangenheit wich. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an das gleißende Sonnenlicht. Noch stand sie im Schatten, den ihr Haus warf. Felsige Hügel, über denen die Luft in der Hitze flirrte, die mit dem Horizont verschmolzen. Ein letztes Mal schloss sie die Augen, beschwor die Häuser ihrer Nachbarschaft, sah sich mit ihrer uralten Nachbarin auf der Bank sitzen, genau hier.
Michelle gab sich einen Ruck. Sie blickte fest gerade aus und biss die Zähne zusammen. Wütend warf sie den Stock fort und zwang sich, die Schmerzen zu ignorieren. Diesen Gang würde sie würdevoll hinter sich bringen, den Triumph gönnte sie ihr nicht.
Ihre Augen hatten sich weiter adaptiert. Auf dem nahen Hügel machte sie Schatten aus. Sie konzentrierte sich auf ihre Schritte, sie musste nicht hinsehen um zu wissen, was und wer dort auf sie wartete. Nach ein paar Metern trat sie aus dem Schatten ins Sonnenlicht. Die Hitze nahm ihr den Atem. Noch einmal drehte sie sich um und nahm Abschied von ihrem Haus, das einsam inmitten der Wüste stand. Sie ließ los. Staub wallte auf, die Mauern fielen in sich zusammen, in wenigen Augenblicken zeugte nichts mehr von menschlicher Aktivität in der endlosen Weite.
Weiter! Ob sie sich übernommen hatte? Es war ein kleiner Hügel, doch es ging bergan. Wut machte sich in ihrem Bauch breit. Nein, sie würde sich keine Schwäche erlauben, nicht vor dieser Massenmörderin.
Die letzten Schritte verlangsamte sie. Zeit gewinnen! Sie musste ihre Erschöpfung abklingen lassen, ihren rasenden Herzschlag beruhigen. Auf keinen Fall wollte sie hechelnd vor sie treten. Es wurde kühler, und bis sie in den Schatten der kargen Bäume trat, hatte sich ihre Atmung gemäßigt.
Eine zerfallene Hütte, davor ein rostiger Zaun, der einen kleinen Friedhof umgab. Ein Stein, geschmückt mit frischen Blumen. Über der Kante baumelte an einer silbernen Kette ein herzförmiges Amulett mit einem Känguru. Tibur van Veylt, 1961-2021.
»Du blöder Idiot!« Ein liebevolles Lächeln verzauberte ihr Gesicht.
»Hallo, Michelle.« Eine Frau trat hinter der Hütte hervor, in einen wallenden ledernen Reitmantel gehüllt, blondes Haar lugte unter ihrem Hut hervor.
Michelle sah sie fest an. »Warum?«
»Haben wir das nicht tausend Mal besprochen?«
»Du hast mir tausend Mal keine Antwort gegeben.« Michelle wandte sich ab und sah zum Grabstein. Tibur, Tibur, was hast du getan? Was hast du nur getan? Wie oft habe ich dir meine Ängste geklagt, meine Träume? Die Karten lügen nicht. Du hast keinen Roman geschrieben, sondern eine Dokumentation. Und Gedanken bewirken etwas, bewegen etwas, wecken etwas auf, das besser weiter geschlafen hätte. Sie warf der Frau einen bitteren Blick zu. »Bist du zufrieden?«
»Ja, bin ich. War der Kaffee heute morgen recht?« Die Frau stutzte. »Oh, bitte um Vergebung.« Sie hielt Michelle die offene Hand hin, und ein bunter Frühlingsstrauß erschien darin. »Schnittblumen hier in diesem Klima, ihr Menschen seid schon seltsam!«
»Waren seltsam, du Mörderin! Kein Grund zur Sorge, bist uns ja gleich endgültig los.« Sie legte das Gebinde auf den Grabstein, ging in sich, verabschiedete sich. »Werde ich links oder rechts von ihm liegen?« Die Schmerzen in ihrer Brust kehrten zurück.
Sie erhielt keine Antwort. Einen Blick in ihr Gesicht schenkte sich Michelle. Der letzte Blick des letzten Menschen sollte etwas Schönem gelten. Er wurde von dem Kettchen gefangen, verlor sich, Tibur …
Der Fels unter ihren Füßen bewegte sich. Der Grabstein kam auf Augenhöhe, jetzt konnte sie die Hand auf die Erde des Grabs legen, der Ausschnitt des Himmels über ihr wurde immer kleiner. Michelle ließ sich auf die Erde sinken, faltete die Hände über der schmerzenden Brust. Das Atmen fiel ihr schwer, ihre Lider schlossen sich für immer. Weit weg fühlte sie, wie sich der Staub nahm was des Staubes ist.
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