Aus einem Buch, das vermutlich nie fertiggeschrieben und veröffentlicht werden wird.
Ich stelle mal drei Kapitelchen hier ein.
Geli ist die tödlichste Inquisitorin, die je für den Vatikan auf Hexenjagd gegangen ist.
Bis sie mit ihren Auftraggebern bricht. Jetzt ist alle Welt hinter ihr her, und ein Dämon ist scharf auf ihre Seele.
Ausgerechnet ihre vormaligen Opfer wollen ihr nicht ans Leder …
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Am Grab
Alfred streichelte den Schriftzug. »Jutta Bahram«. Er legte die Rose auf den Grabstein und sah in die untergehende Sonne. Ihre letzten Strahlen färbten den Horizont rot, der Wind frischte auf.
Die wenigen Besucher schlugen die Kragen hoch und suchten ihren Weg zwischen den Gräbern nach draußen. Eine alte Frau warf einen letzten Blick auf das Grab vor sich und ging. Ihr Rollator fuhr sich im verschlammten Weg fest.
»Hallo Käthchen.« Alfred half ihr, bis die Räder den geschotterten Weg erreichten und wieder Halt fanden.
Sie warf ihn einen dankbaren Blick zu. »Schaust du wieder nach ihr?«
Alfred sah zurück. Weit hinter ihnen kniete Geli vor einem frischen Grab. Die Blumen waren verwelkt und zwischen ihnen lag feiner Schnee auf der Erde. »Sie hat sonst niemanden, seit der Pastor heimgegangen ist.«
Die Alte seufzte. »Das arme Mädchen. Kann sie denn niemand aufnehmen? Es soll heute Nacht Frost geben. Sie wird sich den Tod holen.«
Alfred hielt Käthchen die Tür auf. »Ich kümmer mich drum.«
Wenn Geli Alfred kommen hörte, ignorierte sie dies. Er erschrak. Gelis Kleidung war durchnässt. Die rote Farbe ihres Haars war unter dem Schlamm kaum mehr zu erkennen, es umrahmte ein kränklich blasses Gesicht. Die Augen schwärten entzündet, verkrustete Spuren zogen sich bis zu den blau angelaufenen Lippen. Ihre Hände krallten sich in die Erde.
Alfred holte eine breitbauchige Thermoskanne aus seiner Tasche und kniete neben Geli.
Er streichelte ihr über das Haar und kämmte den Schlamm, so gut es ging, mit den Fingern heraus. Langsam kam Geli zu sich. Ihre Blicke trafen sich, eine einsame Träne suchte sich ihren Weg über die Schrunden um ihre Augen. Geli war weit, weit weg. Sie reagierte weder auf die dargebotene Kanne, noch auf einen Löffel, der ihr in die Hand gedrückt wurde.
»Du Armes. Komm, du musst etwas essen. Ich habe dir heute Fleischbrühe gekocht.« Er schraubte die Kanne auf und schöpfte einen halben Esslöffel. »Mach den Mund auf, Liebes!« Es gelang ihm nicht, Gelis Mund zu öffnen. Schließlich zwang er den Löffel zwischen die Lippen und flößte ihr einen Tropfen ein. Die Suppe rann aus dem Mundwinkel, aber die Wärme erzielte eine Wirkung. Gelis Blick wurde klarer, sie nickte schwach. Vorsichtig fütterte er sie. »Keine Angst, ich habe heute keine Brocken in der Suppe. Du musst nicht kauen.«
Geli begann heftig zu zittern, ihre Zähne schlugen aufeinander, ein dünner Blutfaden rann an ihrem Kinn hinab. »Mein Gott, du bist völlig durchgefroren.« Alfred legte seinen Mantel ab. »Komm, zieh deine Jacke aus.«
Geli sah ihn verständnislos an. »Du musst deine Hände aus der Erde nehmen.«
Ein gequältes Schluchzen schüttelte Geli. Sie vergrub ihre Hände noch tiefer in der Graberde. »Ist gut, du Armes.« Er legte seinen Mantel um Geli und streichelte ihre Schultern.
Geli schwankte vor und zurück, vor und zurück.
»Jaja, es ist so schwer, jemanden ziehen zu lassen. Als meine Jutta gerufen worden ist …«
Alfred konnte Gelis Gesicht im Dunkeln kaum mehr ausmachen. »Du wirst dir den Tod holen, wenn du nicht bald ein warmes Bad und eine heiße Mahlzeit bekommt.« Er quälte sich hoch. »Komm, steh auf!« Er fasste sie am Ellbogen und wollte sie hochziehen.
Mit einem Schrei, der nichts Menschliches mehr hatte, fuhr Geli hoch. Sie rammte Alfred den Ellbogen in den Magen, den anderen gegen den Hals. Ihre Hand fuhr zum Stiefel und riss ein Messer heraus. Alfred sah nichts als seinen sicheren Tod, aber dann wich alles Leben aus Gelis Augen. Das Messer fiel aus ihrer kraftlosen Hand, ihre Züge wurden weich und sie brach vor ihm zusammen.
Alfred kam zitternd auf die Beine und massierte seinen Hals. Er zauberte aus der Tasche ein Windlicht. Sein Schein enthüllte Gelis Arme, von Wunden übersät, die Mehrzahl davon infiziert. Die Fingernägel waren eingerissen oder abgebrochen. Alfred vergaß seine Schmerzen. Geli brauchte dringend Hilfe! Er wickelte sie in seinen Mantel.
Geli schlug die Augen auf und lächelte ihn an. Er strich ihr die Strähnen aus dem Gesicht und summte ein Kinderlied.
»Daniel!« Schlagartig änderte sich Gelis Mimik, als sie erkannte, dass nicht der Pastor vor ihr kniete. Sie riss die Augen weit auf und schrie heiser. Sie drehte sich fort, robbte zum Grab und legte sich darauf. Heftige Weinkrämpfe schüttelten sie.
Alfred kniete sich neben Geli. »Angelica!« Sein Ton war sanft.
Geli fuhr augenblicklich herum, Panik in den Augen, dass er sie vom Grab fortziehen wollte, doch sie war zu schwach geworden. Er fing ihre Arme ab, hielt sie fest und drückte sie an sich. Geli begann zu toben.
»Kindchen, so beruhige dich doch! Ich will doch nur helfen.« Er streichelte Geli. Sie sah ihn an und wurde still.
Ohne Federlesens hob Alfred Geli auf und trug sie mit sich.
***
Geli hörte nicht auf zu zittern. Zum hundertsten Mal fragte sie sich, wie sie hierher gekommen war. Die Badewanne war von heißen Dampfschwaden verhüllt und Alfred fütterte sie Löffel für Löffel mit irgendeinem pappsüßen Sirup. Ihre Zehen brannten wie Feuer, ihre Finger standen dem in nichts nach. Es würde Jahrhunderte dauern, bis sie die Hände wieder gebrauchen konnte. Doch wozu? Ein Schluchzen schüttelte sie und sie verschluckte sich. Sie verkrampfte sich, presste ihre Hand in die Magengrube. Ihre Brust stand in Flammen und so sehr sie sich danach sehnte zu weinen, versagte sie es sich.
»Langsam, Geli. Für jemanden, der dem Reaper Man von der Schippe gesprungen ist, bist du viel zu lebhaft.«
Sie sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. Alles verschwamm. »Meine Augen … grün oder schwarz?«
Alfreds Schatten betrachtete sie lange. »Grün, meine Liebe, und wunderschön.«
Grün! Der Dämon war fort. Sie würde sterben. Die Schatten flossen ineinander, vage konnte sie sein Gesicht ausmachen. Sie wollte nicht wissen, was sie ihren Augen angetan hatte. Es war nicht von Bedeutung. Ihr stand Schlimmeres bevor.
Ein weiterer Löffel näherte sich. Sie fühlte sich zu schwach zum Essen, wandte sich ab. Der Löffel folgte ihr und schob sich in ihren Mund.
Nach dem Schlucken fühlte sie sich restlos verausgabt. »Warum lässt du mich nicht sterben?« Jedes Wort arbeitete sich wie Schleifpapier durch ihren Hals. Feuerräder tanzten vor ihren Augen.
Seine Stimme klang ernst. »Das willst du doch nicht wirklich, Geli.« Und nach einer Pause: »Der Pastor hat dir viel bedeutet.«
Sie spürte Druck auf ihren Augen, aber die erlösenden Tränen folgten nicht. Ihr Hals wurde eng.
»Er war der einzige Mensch, den du auf der Erde hattest, nicht wahr?«
Sie fühlte das Feuer in sich lodern, hörte den Dämon nach ihr rufen. Er suchte sie. Er fand sie. Er holte sie. Geli brannte, er riss an ihrer Seele, zerrte sie zu sich. Sie gab auf. Alles, was sie noch spürte, war ihre Liebe zu Daniel. Sie sah sein gütiges Gesicht vor sich, hörte seine sanften Worte. Seine Finger massierten ihre schmerzenden Füße. Gelis aufgesprungene Lippen formten ein Lächeln. Wenigstens in der Hölle wäre sie mit ihm zusammen.
Ihre Liebe wärmte sie, wo das Feuer des Dämons sie gefrieren ließ. Sie wurde größer, trug sie, erfüllte sie. Die Augen des Dämons glühten sie an, beherrschten die Welt, kamen näher und näher.
Aus dem Nichts erschien ein helles Licht und durchströmte sie. Es fand ihre Liebe zu Daniel, spielte mit ihr, brandete mit ihr zusammen gegen den Dämon, floss wieder zurück. Der Dämon kreischte auf. »Das wirst du büßen!« Er krümmte sich, wand sich vor ihr weg – und floh!
Warum lebte sie noch? Geli blinzelte ins Licht. Tat sie das denn? Wohin sie sah – über ihr, unter ihren Füßen, wallende graue Nebel. Zwei Gestalten schwebten vor ihr in den Schwaden. Mit Alfred hatte sie halb gerechnet, wenn auch nicht als weiß glühendem Schemen. Auch seine Begleiterin erkannte Geli. Aber sie hatte nichts mehr mit der skurrilen Rothaarigen aus dem Museum zu tun. Nicht mehr als ein tropfender Wasserhahn mit den Niagarafällen. Geli schluckte.
»Alfred, zurück!« Auf das Kommando der Frau schwebte er durch die Nebel und verschwand. »Und du, versuch, dich zu entspannen. Ich bin nicht hier, um dir zu schaden.« Die Rothaarige schwebte langsam auf Geli zu. Sacht streckte sie ihre Arme nach Gelis Bauch aus.
Geli zuckte zurück und verharrte: Mitten aus ihrem Bauch wuchs eine silberne Schnur, trieb in der Luft, schlug mit den Nebeln Wellen und verschwand im Unsichtbaren.
Geli sah die Frau an. »Was ist geschehen? Bin ich tot?«
»Möchtest du das?«
Geli senkte den Kopf. »Du hast gesehen, was auf mich wartet.«
Die Frau umfasste ihre silberne Schnur, ohne sie zu berühren. Es prickelte, Geli fühlte, wie frische Energie in sie floss.
»Kannst du die Astralschnur spüren?«
»Nein.« Geli hörte in sich. Da war ein leichtes Ziehen.
Die Rothaarige lächelte. »Konzentriere dich darauf und lass dich führen.« Langsam setzte sie sich in Bewegung.
Geli konzentrierte sich auf das Gefühl, das sich von ihrem Bauch aus in ihr ausbreitete. Sie gab ihrem Wunsch nach, der Fremden zu folgen. Langsam und unsicher setzte sie sich in Bewegung. Vor ihnen wich der Nebel. Sie sah sich selbst in der Wanne liegen. Alfred hob sie aus dem Wasser, legte sie in ein Bett und rubbelte sie trocken.
Die Frau zog sich kommentarlos zurück, verlor sich zwischen den Nebeln.
Ein Reißen fuhr durch Geli. Sie schoss auf ihren Körper zu und japste nach Luft. Ihre Glieder waren wieder schwer wie Blei.
»Dignità! Du bist Dignità!«
Seine Stimme blieb beherrscht. Er drückte sie zurück in die Kissen. »Ganz ruhig, kleine Inquisitorin. Diesen Kampf fechten wir nicht heute aus.« Alfred löste ihre Hände und legte sie zurück.
Sie bebte am ganzen Körper, jetzt nicht mehr nur wegen der Kälte. »Dignità!«
»Höchstpersönlich.«
Sie brauchte ihre Augen nicht, um sein schelmisches Lächeln wahrzunehmen.
»Und jetzt schlaf. Der Dämon wird heute keinen Mucks mehr von sich geben.«
Aber sie musste doch kämpfen, jagen, töten – gegen ihren Willen dämmerte Geli fort.
»Ja, Geli, was weiß ich denn schon.«
Sie spürte Alfreds Hand auf ihren Haaren. Zum ersten Mal seit Tagen fand sie in den Schlaf.
***