Teil II, Kapitel 1, Szene 9: Amtraniks Training
Heute war es endlich soweit. Schon von weitem hörte sie Schnauben und Scharren von Hufen. Nishka schenkte Mistral einen sehnsüchtigen Blick. Er war bester Laune! Das Holz seiner Box war stellenweise zersplittert, das Stroh lag im weiten Umfeld verteilt. Das Fell des Rappen glänzte vor Schweiß. Die anderen Pferde blähten die Nüstern vor der Wildheit des Steppenhengstes.
Nishka näherte sich vorsichtig der Box. »Na, mein Held? Vermisst du deine Herde?« Er beäugte sie und schnaubte. Respektvoll blieb sie stehen. »Weißt du, wie oft ich euch von der Cafeteria aus zugesehen habe? Du bist so wunderschön! Du gehörst nicht in dieses Loch, du musst durch die Wüste galoppieren.«
»Ihr Pferd steht bereit, Major. Da vorne, die helle Stute. Sie ist sehr ruhig und ausgeglichen.« Eine Stockwoman drückte sich mit ihrem Kärcher vorsichtig an Mistrals Box vorbei, und er stieg sofort. Sie duckte sich instinktiv weg.
»Danke.« Wieder warf Nishka dem Hengst einen Blick zu. Er drehte den Kopf und fixierte sie, riss den Kopf hoch, als ob er ihr auffordernd zunicke.
»Lassen Sie von dem besser die Finger, der hat den Teufel im Leib.«
In Nishka regte sich etwas. ›Apropos Teufel – Lust auf eine kleine Lektion?‹
Nishkas Körper spannte sich sofort. ›Amtranik! Was für eine Frage. Was hast du vor?‹
›Sitz auf.‹
›Wie ….?‹
›Nein, du Scherzkeks. Ein Nahtoderlebnis steht heute nicht auf dem Programm. Nimm die Stute.‹
Wenig später lenkte Nishka das brave Tier aus dem Hof und ließ die Zügel locker. Es ging im Schritt durch einen langen Tunnel ins Freie. ›Wo führst du mich hin?‹
Doch Amtranik schwieg.
Selbst die genügsamsten Sträucher wurden hier selten, das harte Gras erreichte kaum eine nennenswerte Höhe. Den Boden durchzogen Tausende von Kaninchenbauten, die das erfahrene Pferd geschickt umging. Nishka entspannte sich und beobachtete die Umgebung. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel, die Luft flimmerte schon zu dieser frühen Stunde. Ein feiner Staubnebel schwebte über der roten Erde. Myriaden von Fliegen umschwirrten ihren Kopf, setzten sich in den Augen- und Mundwinkeln ab. Sie fuchtelte mit den Händen, um sie zu vertreiben und musste grinsen. Australien bot ihr seinen Gruß.
Ihr Blick wanderte über die Landschaft, die vor ihr lag.
›Fühlst du dasselbe? Ich meine, es gibt kaum ein unwirtlicheres Land als das Outback, und dennoch liebe ich es so.‹
›Vielleicht kann ich es dir erklären.‹ Amtranik klang ungewohnt emotional.
›Ach ja? Ich bin ganz Ohr.‹
›Sieh dich um.‹
›Das tue ich schon die ganze Zeit.‹ In Nishka stieg Unmut auf. ›Du vergeudest meinen freien Tag, mach hinne.‹
›Ich meinte, sieh dich richtig um‹, beharrte Amtranik, ohne auf ihren flapsigen Tonfall einzugehen. ›Öffne deine Augen und öffne deinen Geist. Lass die Welt in dein Herz.‹
›Bin ich etwa der kleine Prinz?‹
Amtranik schwieg.
Nishka holte tief Luft, atmete aus und versuchte, Unmut und Ungeduld zu vertreiben. Ihre Augen schweiften über den Horizont. In der schwirrenden Luft waren nur Leere, Staub und ein paar Gräser. Der Himmel wolkenlos, nichts, an dem sich das Auge festhalten konnte. Er strahlte in einem besonderen Blau, tiefgründiger, weiter, klarer, als sie es von Adelaide gekannt hatte. Warum fiel ihr das erst jetzt auf? Sie verlor sich in diesem Blau, es nahm ihr ganzes Ich auf, fühlte sich frei und geborgen zugleich.
Unter ihr raschelte es. Ein Wombat suchte eilig Schutz vor der vermeintlichen Bedrohung. Auf einem Stein wärmte sich eine Eidechse. In der Ferne reckte eine Gruppe Emus hektisch die Köpfe. In einer Senke bewegten sich die Blätter von Wüsteneichen träge im Wind. Dort musste sich Wasser finden lassen.
Ein Schwarm der allgegenwärtigen grau-rosafarbenen Galahs flatterte auf, überall um sich herum vernahm sie ein Krächzen, Knistern, Rauschen und Rollen. Der Wind streichelte ihre Wangen und brachte ihr Nachricht von weit her, von Eukalyptus, Koalas, von Riesenkängurus, von Menschen, die um glimmende Feuer tanzten. Der Geruch von Hunderttausenden von Jahren.
Erneut wanderten ihre Augen über den Horizont. Diese Leere, diese Weite, das Land atmete ein und aus, ein und aus.
Sie verstand. ›Das Land lebt!‹
Amtranik schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln.
›Ich meine, es lebt wirklich. Es ist eins, es ist alles eins. Wie gerne wäre ich ein Teil davon.‹
›Du hast es noch nicht verstanden.‹
›Was denn?‹
Ein nachsichtiges Seufzen.
›Du bist bereits ein Teil davon. Das Land, das Wasser, der Himmel, die Bäume, die Sträucher, das Gras, die Schlangen, die Kängurus, du! Es ist alles eins, ein Teil der großen Schöpfung.‹
Nishka schwieg ergriffen.
›Aschmunadai‹, hörte sie ganz leise.
›Asch… was?‹
Aus der Ferne näherte sich eine donnernde Staubwolke, aus der vereinzelt Pferdeköpfe erkennbar waren. Sie wechselten vom Galopp in Trab, dann in Schritt, blieben zuletzt stehen und beäugten sie. Der Staub senkte sich nach und nach.
Nishka empfand Ehrfurcht. ›Die Herde! Wie oft habe ich sie bewundert. Jetzt steht sie direkt vor mir. Sie sind so wunderschön. Wieso fliehen sie nicht vor mir?‹
›Warum sollten sie dich fürchten? Du bist ein Teil von ihnen.‹
Nishka blinzelte irritiert. ›Das hört sich ja alles gut und schön an … aber … was meinst du?‹
›Sende einen Teil von dir aus und versenke ihn in eines der Pferde.‹
›Ich soll … was?‹
›Du bist nicht das, was du siehst. Dein Körper mit all seinen Ersatzteilen ist ohne Bedeutung. Du bist – reine Energie. Sende sie aus.‹
Angestrengt versuchte Nishka, etwas von sich auszusenden. Amtranik würde ihr nicht helfen, wenn sie es nicht zuvor nach besten Kräften versucht hatte. Nach einer Weile gab sie auf. ›Wie soll ich das denn machen?‹
Amtranik rührte sich. Sie spürte einen leichten Druck, der rasch zunahm, dann ein Zwicken. Im nächsten Moment sah sie sich selbst, von außen, auf dem Pferd sitzen. Sie riss die Augen auf. Noch immer saß sie fest im Sattel, aber gleichzeitig war sie …
»Amtranik, Hilfe!«
›Schrei hier nicht rum! Ganz ruhig. Genieße dein erstes Mal! Bewege deinen Splitter.‹
Nishka versuchte es. Um ein Haar wäre sie aus dem Sattel gefallen.
›Den Splitter, nicht deinen Hintern‹.
Nishka sandte Amtranik einen wütenden Gedanken. Sie konzentrierte sich, verlagerte ihre Aufmerksamkeit auf … was auch immer das war, und der Splitter bewegte sich. Rasch gewann sie an Übung, sie umkreiste sich und betrachtete sich von hinten. Dann bewegte sie sich auf den Leithengst zu.
Sie spürte, wie seine Seele sich öffnete und ihre Energie bereitwillig aufnahm, als sei nichts selbstverständlicher auf der Welt. Ein Schwall an Eindrücken strömte auf sie ein. Fell, das unter dem Kribbeln der Fliegen zitterte. Ein Magen, gefüllt mit leckerem Gras. Der Schweif, der unablässig wedelte. Nüstern, die schnaubend die Nachrichten aus weiter Ferne aufnahmen. Ohren, die sich aufmerksam in ihre Richtung drehten, nicht um zu lauschen, sondern um ihr mitzuteilen, ›Du bist da – ich bin da – wir sind eins‹.
Nishka strömten Tränen der Rührung über die Wange. ›Wir sind eins‹, wiederholte sie.
Sie wandte sich an Amtranik. ›Kann ich mich mit jedem Wesen auf der Erde verbinden?‹
›Da wären wir schon bei Lektion zwei. Deine Energie ist nicht unendlich. Übertreibe es also nicht und vor allem – sieh zu, dass die Splitter auch wieder zu dir zurückkommen.‹
Nishka nickte, konzentrierte sich auf den Splitter, auf sich selbst im Hengst, kehrte zurück zu ihrem Körper, verschmolz mit ihrer eigenen Entität.
›Könnte ich mich auch mit dir verbinden?‹ Der Gedanke erregte Nishka. ›Dann wüsste ich endlich, wer du bist.‹
›Verbinde dich nicht mit Energien, denen du nicht gewachsen bist. Auch ich selbst würde mich niemals mit meinesgleichen oder gar mit Mutter …‹ Abrupt schwieg Amtranik.
›Mutter? Du hast eine Mutter? Wer ist sie? Wer bist du? Und wer ist die Frau, die mich töten will?‹
Amtranik schwieg beharrlich, Nishka gab auf – für den Moment – und ließ ihrem Pferd freien Lauf.
›Was passiert, wenn ich das übersehe?‹
›Das willst du nicht wissen. Lass uns zurückkehren. Mistral wartet.‹
* * *
In der Stallung war es still. Mistral schaute ihr ruhig entgegen. Nishka horchte in sich hinein, fühlte Amtraniks Zustimmung und öffnete sich ihrer Musik. Es gelang ihr spielend leicht einen Splitter ihrer selbst in Mistral zu senden. Sie fühlte augenblicklich Hunger und Durst. Die Enge der Box erdrückte sie, nahm ihr die Luft. Sie wollte raus, raus, nur noch raus! Wütend keilte sie gegen die Wand aus. Nishkas Splitter versprach Mistral Wind und Sonne.
Sie zog den Riegel zurück und schob die Box auf. Die Stockwoman ließ alles fallen und rannte aus der Stallung. Der Hengst senkte den Kopf, schnupperte, stupste Nishka an. Sie warf einen abschätzigen Blick auf Sattel und Zaumzeug, zog verächtlich die Lippen hoch und schwang sich auf Mistrals Rücken.
Inmitten des Outbacks bat sie ihn zu halten und saß still. Langsam schloss sie die Augen und ließ die Wüste erneut auf sich wirken. Die mentale Verbindung zu Mistral ergänzte ihre Sinne um die seinen. Weit im Westen endete der menschliche Einfluss, und er kam keinen Fußbreit näher. Dürreperioden gaben der Wüste in den letzten Jahren zurück, was man glaubte, ihr abgetrotzt zu haben. Das Grenzgebiet war gespickt mit aufgegebenen Farmen und Träumen.
Nishka lachte laut auf, gab ihrem Pferd eine Hilfe und es schritt kräftig aus. Unter einem Vorsprung hielt sie. Der Stützpunkt rüstete sie mit einer kompletten Montur für Expeditionen im Umfeld aus – Kopfschutz, Cremes, Antidots, Funkgeräte und vieles mehr verstaute sie zwischen den Felsen. Sie brauchte das nicht. Amtranik hatte sie gelehrt, mit der Natur eins zu werden, und heute hatte er ihre Seele weit geöffnet. Sie trug jetzt nichts außer einem leichten Reitkleid und genoss den heißen Morgengruß der Sonne auf ihrer Haut, nahm von ihrer Energie nur, was sie brauchte, und gab den Überschuss zurück. Das war der Weg der Musik.
Nach einer Weile stellte Mistral die Ohren und blähte die Nüstern. Er begann zu kauen und mit der Zunge über die Nüstern zu lecken. Nishka öffnete ihre Sinne, hörte die Musik in sich, und schloss die Augen. Hinter einigen Hügeln im Osten, keine Stunde von hier, fühlte sie Wüsteneichen – und mit ihnen Wasser. Sie gab das Bild dem Pferd ein und ließ ihm freien Lauf. Es trabte freudig in die ausgewiesene Richtung.
Nishka wollte mehr. Mit geschlossenen Augen plante sie den Weg zur Oase so, dass er über die Hügel führte. Dann schmiegte sie sich an den Hals des Pferdes, und es ging im Galopp über die Kämme der Hügel, mit freier Sicht nach allen Seiten, so weit das Auge reichte. Überraschend tauchte die Wildpferdherde auf und begleitete sie ein Stück des Weges. Sie war Teil der Gemeinschaft!
Solcher Art waren die wenigen Momente, in denen ihre zerrissene Seele Glück fand.
Wenig später lag sie tief in Gedanken versunken in einem kleinen Tümpel. Ihr Reitkleid lüftete über einem Kakteenbaum, und Mistral graste friedlich am Ufer. Nishkas Blick ruhte auf der spiegelnden Oberfläche des Sees. Wie wohl das Leben auf dem Grund des Sees aussah? ›Amtranik! Wie gern würde ich das Leben unter Wasser kennenlernen!‹
›Vertrau deiner Musik!‹
Sie stieg in das kühlende Nass, tauchte unter, nahm einen ersten zaghaften Atemzug, das Wasser flutete ihre Lungen. Nishka seufzte, es wurde ein Blubbern daraus. Sie musste darüber lachen, und sie musste noch viel mehr lachen, als sich daraufhin kleine Fontänen aus dem See hoben.
›Übertreib es nicht. Du erschreckst die Tiere, und panische Tiere erzeugen Aufmerksamkeit!‹
Ein Schnabeltier rappelte sich mühsam ans Ufer und verschwand zwischen den Pflanzen. Sie zog sich sofort tiefer unter die Oberfläche zurück und entspannte sich. Unter Wasser zu atmen, war nicht trivial. So schön es war, Amtranik betrachtete es als Lektion, und sie wollte ihn nicht herausfordern.
›Und jetzt kommt Lektion Nummer drei: Sei vorsichtig! Bleib immer im Verborgenen! Rufe die Nacht! Es gibt nichts Wichtigeres.‹
Nishka gehorchte. Sie wob Dunkelheit um sich, ein Netz schwarzer Fäden hüllte sie in Schichten und noch mehr Schichten aus Schwärze. Amtranik suchte nach Fehlern, nach Schwächen in der Mauer. Ohne Rast und Ruhe verbesserte er, korrigierte er.
›Ist es noch nicht gut? Es kostete mich alle Kraft.‹
›Es ist niemals gut. Dein Leben hängt davon ab.‹
Nishka folgt der Anweisung. Es war mühsam, aber der Lohn unvergleichlich, denn sie war wieder eins mit der Musik. Nur im Schutz der inneren Nacht, wo sie von keinen fremden Augen beobachtet werden konnten, öffnete Amtranik ihr für wenige Momente des Glücks den Zugang zum Grund ihrer Seele, wo sich die Musik fand.
Vor was verbarg er sich nur mit einem solchen Aufwand?
Unter den wachsamen Augen ihres Mentors schickte Nishka einen Teil von sich in Mistral und verschmolz mit seinen Gefühlen. Sie fühlte sich gesättigt und kaute entspannt auf einem Grashalm im Maul. Ein leichter Wind strich kühl vom See her über ihre Nüstern. Nishka ließ Mistral übermütig den Kopf schütteln und zog sich zurück.
Die Schwärze um sie herum wurde schlagartig undurchdringlich, die Musik verstummte. Amtraniks Angst war greifbar. Was erschreckte ein Wesen mit seiner Macht nur so elementar?
›Hast du nicht verstanden? Du gehst zu schnell und zu sorglos vor. Schluss für heute.‹
Ein Brennen in ihrer Brust riss sie aus ihren Gedanken. Sie fuhr auf und tauchte aus dem Wasser auf. Ein Hustenanfall schüttelte sie durch, bis sie Luft in ihre Lungen pumpen konnte. Mistral machte einen Satz zur Seite, beruhigte sich aber schnell wieder.
Nach ein paar Momenten normalisierte sich Nishkas Atmung. Sie fühlte in sich und fand ihre Befürchtung bestätigt. Der Zugang zur Musik war ihr verwehrt. So, wie sie Amtranik kannte, würde das lange so bleiben. Die Sonne brannte heiß und schmerzhaft auf ihrer Haut. Ohne den Schutz der Musik wäre der Heimritt gefährlich, letztendlich tödlich.
›Und wo liegt dein weltlicher Schutz? Deine Ausrüstung? Unter ein paar Steinen vorm Stützpunkt! Du bist überheblich. Sieh zu, wie du aus der Nummer wieder rauskommst.‹
Nishka zog sich ihr Reitkleid an und schritt tiefer in die Oase. Im Schatten wollte sie auf die Nacht warten. Amtranik würde sie nie einer echten Gefahr aussetzen, doch schmerzhafte Lektionen traute sie ihm zu. Sie würde es ihm nicht leicht machen.
›Amtranik, Wir sind hier mitten in der Wüste. Übertreibst du nicht etwas?‹
Übergangslos wurde es dunkel. Ein kleines Fenster öffnete sich in der Nacht. Nishka sah zwei Reiterinnen in ledernen Reitmänteln, ihre Haare wehten unter den Hüten im Wind. Das Fenster zoomte die rechte Frau heran. Ihre blauen Augen lächelten vergnügt. Plötzlich wurde ihr Blick starr, sie legte den Kopf schief. Von ihr ging ein Ton aus, eine Frage, lauernd, suchend, züngelnd wie eine hungrige Schlange. Erinnerungen schnürten Nishka den Hals zu.
Die Vision erlosch.
›Das ist vor wenigen Minuten geschehen. Emnasut hat deinen Patzer gehört.‹
›Ich weiß, wer das ist.‹ Nishka schluckte. ›Heißt sie so? Emnasut? Warum will sie mich unbedingt umbringen?‹
›Nimm meine Anweisungen endlich ernst, wenn du leben willst‹, blaffte Amtranik, ohne auf ihre Fragen einzugehen.