Teil 1, Kapitel 1, Szene 4: Kents Scheideweg

Die Scheibenwischer standen in der Schlacht mit den Wasserfluten auf verlorenem Posten. Der Truck kämpfte sich von Schlagloch zu Schlagloch und ließ aus jedem Loch Fontänen aufspritzen. Die Flut in seiner Kabine wetteiferte mit der außerhalb; in endlosen Strömen prasselte sie aus dem Mund des Fahrers auf Kents Ohren.
»… da vorn anhalten. Wir nehmen Mongkut mit. Sein Bruder und ich waren …«
Fahrgäste? Kent war hellwach. Sie schob die Hand unter die Weste und suchte den Abzug der Glock. Sie blendete seine Stimme aus.
Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt der Straße. Zwei Figuren schälten sich aus den Regenschwaden heraus, die eines Mannes und die einer Frau. Sie trugen Strohhüte, von denen das Wasser in Strömen auf ihre Schultern floss. Der Fahrer hielt den Truck mit einem Ruck an und kurbelte das Fenster nach unten. Das Paar kam winkend näher, eine angeregte Unterhaltung entwickelte sich. Der Fahrer deutete mit dem Daumen nach hinten. Sie kletterten auf die Ladefläche, und der Truck fuhr ebenso ruckartig an, wie er abgebremst hatte.
Kent klappte die Sonnenblende hinunter, schob den Spiegel auf und verlagerte ihre Position. Jetzt konnte sie die Ladefläche und die Fahrbahn gleichzeitig im Auge behalten.
»… wir haben Glück dieses Jahr. Letzten Monsun war diese Straße nicht mehr befahrbar. Mongkut hat mich wochenlang bei sich zu Hause durchgefüttert. Aber die Reisernte! Wir …«
Es wurde ruhig. Der Fahrer grinste Kent an. »Siehst du, was habe ich gesagt? Der Monsun verdient seinen Namen dieses Jahr nicht.«
Die Scheibenwischer hatten den ungleichen Kampf gewonnen.
»Mit anderen Worten, Eure Reisernte fällt dieses Jahr mager aus.«
Der Fahrer kommentierte die bissige Bemerkung mit einer Reihe von Flüchen.
Langsam wurden die Schlaglöcher kleiner und die Straße verdiente ihre Bezeichnung endlich, jetzt, wo man weiter als zwei Schritte sehen konnte. Immer mehr Reisende begegneten ihnen, zu Fuß oder in Fahrzeugen aller Art.
Die ersten Gebäude von Phatthalung kamen in Sicht. Aus dem Schotter wurde Asphalt, rissig und durch Wurzeln aufgebrochen, aber Asphalt. Niedrige Häuser mit hohen Eingängen zogen an ihnen vorbei. Der Fahrer hielt auf einen größeren Platz zu und stoppte den Truck so abrupt, als wäre er gegen eine Wand gefahren.
Kent sah sich um. Aus dem Tempel in der Mitte des Platzes wehte der Geruch von Räucherstäbchen und mischte sich mit der dampfenden Luft; davor standen noch ein paar Leute in lockeren Gruppen, einige wenige Passanten huschten über den Platz und Kinder spielten in den Pfützen. Insgesamt bot sich ihr ein Bild des Friedens. Sie überprüfte die Klinge an ihrem Unterarm und den Sitz ihrer Glock, griff in die Tasche und warf dem Fahrer eine Handvoll Baht auf den Schoß.
Nach einem prüfenden Blick auf die niedrigen Dächer der Umgebung öffnete sie die Tür, stieg aus und ließ sie hinter sich offenstehen. Der Fahrer fluchte und schlug sie laut zu. Die Aufmerksamkeit der kleinen Menge galt dem Truck, sodass sie mit einigen raschen Schritten unbeachtet in den Schatten der Gebäude eintauchen konnte. Dort lehnte sie sich bequem an eine Wand, zog ihren Hut tief ins Gesicht und ließ die Stimmung auf sich wirken.
Die Menschen kamen, trafen sich, tauschten Höflichkeiten aus und gingen weiter. Menschen waren gute Schauspieler, mehr Aufmerksamkeit schenkte Kent den zahllosen Hunden, die herrenlos auf der Suche nach Futter durch die Gassen trotteten. Ihre Lefzen waren entspannt hochgezogen, die Ruten schwangen locker, nichts in ihrem Verhalten deutete auf eine unterschwellige Bedrohung hin.
Endlich war Kents Bedürfnis nach Sicherheit befriedigt. Sie betrat das Roti Canai und nahm ungefragt an einem Tisch an der Wand Platz, von dem sie einen guten Blick auf das ganze Etablissement und die Türen zur Straße und zur Küche hatte. In der Scheibe spiegelte sich eine unauffällige Tür in ihrem Rücken. Es dauerte keine Minute, bis eine Bedienung an den Tisch kam und sie kühl begrüßte.
Kent würdigte sie keines Blickes. Sie nahm ihren Reishut ab und schüttelte ihre nasse rote Mähne aus. Alle Farbe wich aus dem Gesicht des Mädchens, Schweiß trat auf ihre Stirn und sie zitterte am ganzen Körper. Entschuldigungen murmelnd, verschwand sie rückwärtsgehend unter Verbeugungen in der Küche. Wenige Sekunden später schwang die Tür auf. Eine wesentlich anspruchsvoller gekleidete Frau trat an Kents Tisch, servierte Limettentee, verbeugte sich und ließ ihren werten Gast respektvoll alleine.
Kent achtete auf die verstreichende Zeit. Nachdem sie den Tee getrunken und die Tasse abgesetzt hatte, vergingen einige Minuten, bis sich die Tür öffnete. Das war zu lange. Sie schaute sich verstohlen um.
Ein bulliger Mann im Nadelstreifenanzug hielt ihr die Tür auf. Sie ließ ihn ein paar Augenblicke warten, bis sie aufstand. Während sie auf ihn zuging, achtete sie auf seine Körperhaltung. Ihr fiel nichts Ungewöhnliches an ihm auf. Direkt hinter der Tür ging es in die leere Küche, rechter Hand führte sie eine schmale Treppe nach oben in einen kleinen Vorraum, in dem ein paar Stühle standen, und an dessen gegenüberliegender Wand ihr ein weiterer Mann eine reich verzierte Tür aufhielt. Er hielt ihrer Prüfung ebenfalls stand. Nichts erhärtete ihren vagen Verdacht. Kent betrat ein in verschwenderischem Luxus gehaltenes Büro.
Hinter einem Tisch sitzend erwartete sie ein Mann mit der Statur Buddhas und den Augen einer Kobra, neben ihm stand ein dritter Anzugträger.
»Ivy Kent, wie schön, Sie zu sehen. Bitte setzen Sie sich.«
Wortlos nahm Kent Platz.
»Meine Vögelchen zwitscherten mir ein Loblied über Sie.« Sein Frohsinn wurde durch Kents Ruhe spürbar gedämpft. »Kent, unterkühlt wie immer. Möchten Sie nicht an meiner Freude teilhaben? Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
Kent beobachtete ihr Gegenüber genau. Sein Lachen erreichte die Augen nicht. Der Bully an der Wand verlagerte sein Gewicht ständig. Ihre Nervosität wuchs.
Ohne sein Lächeln zu verlieren, schob ihr Gesprächspartner ein Kuvert über den Tisch. »Wir sind mit Ihren Diensten wie immer ausgesprochen zufrieden.«
Kent rührte sich nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt der Hand des Mannes, die auf dem Weg vom Päckchen zurück an einer anderen Stelle als zuvor zur Ruhe kam. Der Zeigefinger senkte sich auf eine Intarsie der Tischplatte und drückte sie ein. Unter dem Tisch war ein Klacken zu hören, gefolgt vom Plopp einer gedämpften Waffe.
Mit einer schlangengleichen Bewegung stieß Kent ihren linken Arm nach vorne, unter ihrem Ärmel schoss ein Dolch hervor und bohrte sich in den Hals des Dicken. Gleichzeitig fuhr ihre Rechte in die Jacke und riss die Glock heraus.
Ein dumpfer Schlag zur Linken ließ ihren Kopf herum rucken. In der Wand klaffte ein zentimetergroßes Loch, umgeben von roten Spritzern. Sie fuhr sofort zum Fenster herum. Aus einem runden Loch rieselte noch Glasstaub. Die Glock hatte ihre Position erreicht und ihr Ziel verloren: Der Schläger sackte langsam an der Wand herunter und blieb in einer rasch größer werdenden roten Lache liegen.
Kent wollte sich aus dem Stuhl werfen, weg vom Fenster. Ihre Beine reagierten nicht, ihr Waffenarm sank langsam nach unten, ihr Schwung ließ sie seitlich über die Lehne kippen. Unter der Tischplatte lugte ein Rohr hervor, aus dem eine feine Rauchfahne wehte. Erst als ihr bewusst wurde, dass sie getroffen war, fühlte sie den Schmerz im Bauch, und die Feuchtigkeit, die an ihr herablief.
Sie versuchte, sich im Sturz zu drehen, kämpfte gegen die bleierne Schwäche an, die sich in ihr ausbreitete. Es war vergeblich – sie kam auf ihrem rechten Arm zu liegen und blockierte die Waffe.
Alles war schnell und lautlos vonstattengegangen. Von wo aus war der Schuss auf den Schläger abgegeben worden? Von wem? Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Tür. Draußen dürfte noch niemand etwas bemerkt haben. Wann würde man nachsehen kommen? Hilfe erwartete sie nicht.
Von draußen war ein leises Ploppen zu hören. Das waren schallgedämpfte Waffen, dem Klang nach schweres Kaliber! Was passierte hier? Die Tür wurde leise ein Stück weit geöffnet. Dann ging alles rasend schnell. Drei schwarz gekleidete Soldaten stürmten in den Raum und sicherten ihn. Sie kontrollierten die beiden Toten und ließen sie liegen. Ein Soldat kickte ihre Glock weg, kniete neben ihr nieder und legte seine Maske ab. Kent sah in das Gesicht eines blutjungen Mädchens.
»Ivy Kent? Ich bin Natalie Ward. Sie wurden angeschossen. Ich werde Sie jetzt versorgen. Bitte wehren Sie sich nicht.«
Als ob sie eine Wahl hätte! Natalie drehte Kent auf den Rücken und inspizierte die Wunde. Kent sah, wie sich Betroffenheit auf ihrem Gesicht ausbreitete. Rasch presste Natalie eine Kompresse auf ihren Bauch.
»Natalie, wie kommt es, dass man ein kleines Mädchen wie dich auf diesen Einsatz schickt?« Kent hasste sich für den schwachen Klang ihrer Stimme.
»Ich erschieße gerne Verbrecher. Und jetzt Ruhe.« Natalie drückte so fest, dass Kent vor Schmerz schrie. Natalie biss die Zähne zusammen und nahm den Druck etwas zurück. Ihr Blick sprach Bände. Kent sah sie erschrocken an. Natalie meinte es ernst, in ihren Augen war sie nichts als Unrat.
Laut sagte Natalie: »Das wird schon wieder.« Das Vibrieren in ihrer Stimme überführte sie der Lüge. Die Wunde musste ernst sein.
»Du hättest nichts dagegen, ginge die Sache hier anders aus?« Kent lachte leise. »Aber es geht nicht nach dir, stimmt’s?«
»Verdammt, halt’s Maul, dann bringen wir dich vielleicht durch.«
»Mich durchbringen? Um mich nach ein paar netten Gesprächen auf den elektrischen Stuhl zu schnallen?« Schwach sank ihr Kopf zur Seite, sie konnte Natalies Reaktion auf ihren Spott nicht mehr sehen. Sie hörte das Piepen eines Funkgerätes und Natalies Stimme eine Zahlenkombination sprechen. Eine Antwort erhielt sie nicht.
Einen Moment später füllte ein eiskaltes Blau den Raum. Kent suchte Natalies Hand. War es soweit? Sah Natalie das Licht ebenfalls? Das Licht erlosch so schnell, wie es aufgeflackert war. Kent hörte ein Tack-Tack näherkommen. Ein weißer Stock kam in ihr Gesichtsfeld.
»Gut gemacht, Ward. Wenn Sie bitte so nett wären, Frau Kent etwas stilvoller zu lagern?«
Etwas Weiches wurde Kent in den Nacken gelegt. Endlich konnte sie die Anwesenden sehen. Natalies Gesicht wirkte besorgt. Neben Natalie kniete ein kleiner Mann in einem grauen Anzug. Er trug eine Brille mit schwarzen Gläsern.
»Bitte entfernen Sie die Kompresse, Ward.«
Sofort fühlte Kent das Blut über ihren Körper fließen. Der Mann beugte sich vor. Seine Hand legte sich leicht auf ihren Bauch. Ein blaues Leuchten spiegelte sich im Schwarz der Brille. Ihr Unterleib empfing eine wunderbare Wärme, die sich in Beine und Arme ausbreitete und ihre Schmerzen fortspülte. Mit jedem Atemzug fühlte sich Kent kräftiger. Rasch hatte sie genug Energie, um an sich herunterzublicken.
Ein tiefblaues Glühen verschwand in der Hand des Blinden, er nahm die Hand fort. Kent fühlte sich so gut wie selten zuvor.
»Ich bitte um Entschuldigung. In der Eile habe ich alle Regeln der Höflichkeit beiseitegeschoben. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Elias Deubler.« Er bot ihr formvollendet die Hand und hieß sie aufzustehen.
Nicht ein Tropfen Blut klebte an seiner Hand.
Wackelig stand sie auf den Beinen, aber das verging rasch. Natalie führte sie zu einem Stuhl. Kent verbarg mühsam ihre Anspannung.
»Ich danke Ihnen. Meinen Namen kennen Sie ja.« Und was noch alles? Sie wüsste zu gerne, mit wem sie es hier zu tun hatte. Zu den örtlichen Behörden gehörte die Truppe garantiert nicht, die hielten sich hier raus. Rangabzeichen oder Namensschilder trugen sie nicht. Natalie war ein internationaler Name, sie sprach akzentfreies Englisch. Amis? Deublers Name und sein Englisch klangen hart. Vielleicht Russisch? Deutsch?
Sie hielt das Schweigen nicht mehr aus. »Deubler. Wenn Sie mich tot wollten, würden wir jetzt nicht miteinander sprechen. Machen Sie es kurz. Was? Für wie viel?«
»Ich glaube, das hier hat etwas mit dem Gesinnungswandel ihres so unerwartet verstorbenen Geschäftspartners zu tun.« Deubler hielt ihr einen Briefumschlag hin.
Kent musste zweimal hinlangen, bis ihre zitternden Finger den Umschlag halten konnten. Sie fühlte einen härteren Widerstand. Als sie öffnete, erwartete sie weder Geld noch Papier.
Das Foto von einem kleinen Jungen mit feuerroten Haaren fiel in ihren Schoß. Kent fühlte einen Kloß im Hals, der rasch größer wurde und ihr den Atem nahm. Ohne etwas dagegen tun zu können oder wollen, liefen ihr die Tränen über das Gesicht.
Mit zitternden Fingern nahm sie das Bild auf und streichelte über das Gesicht des Jungen. Flehend sah sie hoch.
Deublers Stimme wurde sanft. »Haben Sie wirklich geglaubt, diesen Privatkrieg im Alleingang gewinnen zu können? Sie suchen Ernesto? Pandiangan hat Sie und Ihr Kind gefunden!«
Deubler wies mit dem Blindenstock auf die Leiche Buddhas. »Sein Kopfgeld muss hoch gewesen sein.« Er ließ Kent Zeit. Sie streichelte die Haare auf dem Bild, legte ihre Finger um das Kinn. Nichts Anderes zählte, nichts.
»Wo ist er? Wie geht es ihm? Geht es ihm gut? Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, es ist doch nur ein kleines Kind. Bitte tun Sie ihm nichts.«
»Sie verärgern mich, Kent. Bitte unterstellen Sie mir nicht Ihre eigene Moral. Wir haben Ihren Sohn nicht, und wir würden uns auch nicht an einem Kind vergreifen.«
Die Angst um ihr Kind machte sie wahnsinnig. »Entschuldigung, bitte entschuldigen Sie, das wollte ich nicht, das habe ich so nicht gemeint. Natürlich würden Sie so etwas niemals tun. Ich …«
»Sie atmen jetzt durch und sortieren Ihre Gedanken.« Deubler nahm ein Taschentuch aus dem Revers und legte es vor Kent auf den Tisch.
Kent nickte, wischte sich die Tränen aus den Augen und schnäuzte sich. Dann atmete sie ein paar Mal tief durch und sah Deubler gefasst an.
»Es dürfte Ihnen klar sein, dass Sie hier keine Zukunft mehr haben.« Und nach einer Pause: »Frau Pandiangan.«
Kent wurde kalt. Wer waren diese Leute? Woher wussten sie so viel, kannten ihr bestgehütetes Geheimnis? Kent verschränkte ihre Finger, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Ein spöttisches Grinsen auf Natalies Gesicht machte ihr klar, dass es dafür längst zu spät war.
»Was immer Sie fordern.« Sie warf Deubler einen langen Blick zu.
»Sie. Ihre Fähigkeiten, Ihre Verbindungen, Ihr Wissen.«
Kent nickte. »Geht es konkreter?«
»Sie sollen sich um jemanden kümmern.« Kent öffnete den Mund. Rasch hob Deubler beide Arme. »Nein, nicht auf Ihre Weise. Sie wird in einem schlechten Zustand sein, viel Hilfe und Liebe benötigen, aber auch eine feste Hand. Ich glaube, Sie gäben eine gute Mentorin ab.«
Kent öffnete die Augen und sah Deubler fassungslos an. Das war das Letzte, womit sie gerechnet hätte. »Ich? Was kann ich jemandem beibringen?«
»Das Leben, wie Sie es erfahren haben.«
»Was hat sie Ihnen angetan?«
»Haben wir einen Deal? Nicht heute, nicht morgen, nicht dieses Jahr und nicht das nächste.«
Kent zögerte, ihre Finger fuhren fahrig über das Bild. »Ich fordere Sicherheit für ihn.«
»Das lässt sich einrichten. Sind wir im Geschäft?«
Kent nickte.
»Ich höre?«
Kent schluckte, räusperte sich, antwortete mit fester Stimme: »Ja, wir haben einen Deal. Wo unterschreibe ich?«
»Sie unterschreiben mit Ihrer Seele.«
Kents Finger krallten sich in das Foto. »Was meinen Sie? Ich unterschreibe jeden Vertrag.«
Von Deubler ging eine Musik aus, anders als alles, was sie in Worte fassen könnte. Sie drang durch ihre Augen, ihre Ohren, ihre Haut tief in sie ein. Sie verfolgte die Musik mit Sinnen, deren Existenz sie bis dahin noch nicht einmal geahnt hatte.
Mit Grauen fühlte sie sich beobachtet, analysiert, jeden ihrer Gedanken begutachtet. Verzweifelt stemmte sie sich gegen Deubler, fand keinen Weg, sich zu wehren. Mit wachsendem Entsetzen fühlte sie ihn immer tiefer in sich eindringen. In ihr erwachten Erinnerungen, die sie vor einer Ewigkeit begraben hatte, im Dunklen verborgene Ängste und Albträume wurden hell beleuchtet.
Kent sah ihr ganzes Leben vor sich ausgebreitet. Schläge, Erniedrigungen, Gefangenschaft und Folter, das ganze Entsetzen von Vergewaltigung bis hin zu seelischen Grausamkeiten. Sie erlebte jeden Moment erneut, alles, was man einem Menschen antun konnte.
Und gleichzeitig fühlte sie alles Schöne, das ihr vergönnt gewesen war, von der Umarmung durch ihre Mutter bis zum letzten Rausch mit einem Lover, den ersten Schrei ihres Sohnes, die wilde Befriedigung, als sie mit dem blutigen Messer über der Leiche …
Und Deubler grub noch tiefer.
Endlich sah er auf den Grund ihrer Seele. Sie fühlte sich nackt, hilflos, ihm schutzlos ausgeliefert, auf seine Gnade angewiesen. Dieser Moment würde sich für immer in sie eingraben, Teil ihrer selbst werden, sie bis zu ihrem Tod und darüber hinaus verfolgen.
Warum zögerte Deubler? Was hatte er mit ihr vor, jetzt, wo sie vor ihm lag? Was wollte er denn noch?
Deubler lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine ihrer schlimmsten Erinnerungen. Sie nahm die Geldbörse vom Nachttisch ihrer sterbenden Mutter. Ihre Mutter schlug die Augen auf, sah sie mit einem tieftraurigen Blick an. Ein peinigendes Gefühl der Schuld grub sich für immer in ihre Seele.
Deubler nahm ihre Erinnerung an alle Verbrechen, die sie begangen hatte, eins nach dem anderen, jeden einzelnen Mord, ließ nicht einen einzigen aus, und verband die Taten mit diesem vernichtenden Gefühl.
Langsam ebbte die furchtbare Musik ab.
Deubler weckte in ihr einen Gedanken.
›Sie sind nicht durch und durch verdorben. Ich schenke Ihnen eine zweite Chance. Erfüllen Sie Ihren Auftrag zu meiner Zufriedenheit. Seien Sie gewarnt. Das Mädchen, das ich in Ihre Obhut geben werde, ist keine von eurer Art.‹

Sie war alleine in ihrer Seele. Nichts im Raum hatte sich verändert. Sie hielt noch immer das Foto in ihren Fingern. Deubler hatte nur einen winzigen Augenblick gebraucht, um sie zu vernichten. Er wandte sich ab.
»Ward, kümmern Sie sich um Kent. Und versuchen Sie, nett zu sein. Sie ist kein böser Mensch.« Er verließ den Raum.
Kent versuchte zu weinen, und als ihr das nicht gelang, krallte sie die Nägel in ihre Augen, um sie herauszureißen. Sie sank vom Stuhl auf den Boden und kauerte sich unter dem Tisch zusammen. Hier gehörte sie hin, in den Dreck, gedankenlos weggeworfen und vergessen wie der Leichnam neben ihr, verborgen vor den Blicken der Menschen.
Schritte näherten sich. Kent sah gequält auf. Sie wollte nicht so gesehen werden. Natalie kniete sich neben sie.
»Es wird gleich besser.«
Kent wandte sich ab. Natalie legte den Arm um sie und drückte sie an sich.
»Ich weiß genau, wie Sie sich fühlen.« Sie seufzte. »Tut mir leid, wenn ich vorhin fies war. Sie haben mich an – jemanden erinnert.«
»Was hat er getan?« Mehr als ein Hauchen gelang Kent nicht.
»Er hat eine üble Erinnerung in Ihnen geweckt, ja?«
Kent schloss die Augen. Natalie hielt Kent von sich und sah ihr in die Augen. »Ich nehm das mal als ’Ja’. Er hat Ihnen nicht den freien Willen genommen. Aber sie werden nie wieder etwas tun können, ohne daran zurückzudenken, was immer das auch für eine Erinnerung ist.«
Kent sah Trauer und einen tiefen Ernst in Natalies Augen. »Sie … Sie haben …«
»Ja. Auch mir hat er eine zweite Chance gegeben. Willkommen im Team.«